alle Glocken den morgenden Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und Rauschen der Arbeit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht ward’s auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf dem großen Atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff, dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. Dort steht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Leben und Bewegung. – Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in demselben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der Willkommenschuß donnert, »Amerika!« die zu dem Schiffsrand stürzende Auswandrerschar ruft und eine Mutter ihr kleines, lächelndes Kind in die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält!
Das Gras fängt an, feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu. Wir kennen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht, sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen. »Lassen Sie mich die Kleine küssen!« sagt sie.
Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen.
Elise erwacht: »O wie schön!« ruft sie, in die Glut des Abends schauend.
»Gute Nacht, Franz! Gute Nacht Maria!«
Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen, herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In allen Haustüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt: Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen, Federkritzeln, alles ins Stocken geraten, nur nicht – die Zungen!
»O je, o je, Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!« schreit Martha, die auf der Treppe unserer Haustür, umgeben von einem Kreis Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem zu.
»Was gibt’s denn, Martha? was ist los?« rufe ich ihr entgegen.
»Der Herr Doktor Wimmer ist los!« jubeln zwanzig Stimmen um mich her, und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen, welcher bis jetzt der »bunte Hund« der ganzen Gasse war.
Ein großer Bogen Papier flattert dort oben, und darauf steht mit gewaltigen Buchstaben:
DR. WIMMER P.P.C.
Aus dem offenen Fenster aber beugt sich – Herrn Polizeikommissarius Stulpnases ehrwürdiges Vollmondgesicht, und seine weißbehandschuhten Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen.
Ich überliefere schnell die verwunderte Liese der alten Martha und steige die Treppen zu der Wohnung des Doktors hinauf, welches sehr langsam geht, denn vor mir her schiebt sich eine unbeschreibliche, wunderbare Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam, langsam hinauf.
Das war die dicke Madam Pimpernell, die das Ereignis seit langen Jahren zum ersten Male wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb.
Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel und brauche daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doktors in einem zerspaltenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste Fumadores regalia und – einem Exemplar der Flodoardine bestand. Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest wehmütig-grimmig an und ächzte:
»Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donnerwetter – ohne erst für seinen ›Deppe‹ gesessen zu haben.«
»Jotte, einer armen Witfrau ihren besten Mieter abzutreiben, is das in der Ordnung, Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer um ‘nen Dreier billiger gelassen?« greint die dicke Madam Pimpernell, die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist.
»Halte Sie das Maul, Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein Gesicht macht, wie es einst jedes brave korinthische Weib geschnitten haben muß, als es das Wort des Apostels Paulus hörte: Mulier taceat in ecclesia.
Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: »Deppe.« Plötzlich aber, mit Wut auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: »Und hier hab ich den Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und – ausgekniffen!«
Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden Würdigen einander gegenüber sitzen lassend.
In der Gasse steckt mir Marquart ein Billet zu und flüstert geheimnisvoll, nach dem Fenster des Doktors deutend:
»Das hat er zurückgelassen für Sie, Herr Wachholder!«
Der Zettel lautet:
»Liebster Freund!
Eine hohe Polizei weiß, was ›Deppe‹ heißt, obgleich es nicht im Konversationslexikon steht. Ein Freund hat mich gewarnt – ich verschwinde! – In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder!
Dr. Wimmer.
P. Scr. Der Redaktionspudel begleitet mich!«
»Onkel, was soll denn das alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doktor?« fragt die kleine Liese, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom Fenster weggekommen ist.
Ich schreibe: pour prendre congé auf einen Zettel, und Lieschen, die jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hülfe eines Diktionärs noch vor dem Schlafengehen heraus:
»Um – nehmen – Abschied.«
»Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!«
Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft ihren ersten Schmerz. In diesem Alter genügt noch eine Nacht, ihn zu begraben.
Am 12. Januar.
Ich hab’s mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab’s auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich – schreibe keinen Roman! Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie?
Doch – einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! – Wieviel trübe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorübergeschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes, freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.
Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen, vertrockneten Blumen und Bändern liegt da; ich brauche nur hineinzugreifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu lassen, keine aber so duftig, so waldfrisch als die folgende, welche ich überschreibe:
Ein Tag im Walde.
»Fahren wir, oder gehen wir?« hatte Lieschen am Abend jenes auf den vorigen Seiten beschriebenen, so ereignisvollen Tages noch gefragt.
»Wir fahren!« war die Antwort gewesen, und glücklich darüber hatte das Kind das Näschen nach der Wand gekehrt und war eingeschlafen.
Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens, den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisierbüchse auf dem Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend.
Die alte Martha hatte den Kaffee fertig, und Lieschen, die bei ihrem Eifer, ebenfalls fertig zu sein, diesmal mehr Hülfe als gewöhnlich nötig gehabt hatte,