Zuversicht. Ihm war, als stünde er am Rand eines Abgrunds, von dem es kein Zurück gab. Wollte er leben, musste er springen, musste er sein altes Leben abstreifen. Ohne auch nur zu erahnen, wie sein neues Leben aussehen mochte. Sollte es überhaupt eines für ihn geben.
»T minus 59 Minuten«, gab das Kontrollcenter durch. Es war eine nüchterne, gefühllose Durchsage, die von einer Maschine hätte stammen können. Aber sie tat es nicht. Einen Augenblick – nein, zwei Augenblicke später, die Lichtsekunde, die sie von der Erde trennte, sorgte dafür – sagte dieselbe Stimme voller Leben: »Gib es auf, Reg! Gegen mich kommst du sowieso nicht an. In der Zeit, in der du eine Flotte baust, erobere ich die halbe Galaxis!«
Bull klappte das Visier des Helms zurück. Er grinste. »Ist ja auch kein Wunder, Raimond. Du hast ja immer eine verfluchte Sekunde Vorsprung!«
Raimond, so hieß der Techniker, natürlich. Rhodan hatte seinen Namen vergessen, es gab buchstäblich Hunderte von seinem Schlag in Nevada Fields. Viel zu viele, um sich alle Namen einzuprägen, für Rhodan jedenfalls. Ihm waren lediglich die wichtigsten präsent. Wie etwa der ehemalige Technische Leiter des Shuttle-Projekts. Bernhardt, ein deutschstämmiger Amerikaner mit einem hitzigen Temperament, das Pounder wie einen umgänglichen Kumpel erscheinen ließ, hatte bis zu seinem tragischen Unfalltod mit einer Hingabe am Raumfahrtprogramm gearbeitet, die sogar noch die Pounders in den Schatten gestellt hatte. Rhodan zweifelte keine Sekunde daran, dass er ohne Bernhardts unermüdlichen Einsatz die Erde niemals verlassen hätte.
Bull dagegen kannte alle Namen. Alle. Nicht nur die der Techniker. Bull kannte sie bis hin zur letzten Aushilfsputzkraft. Und mit jedem dieser Menschen schien Bull mühelos den richtigen Ton zu treffen.
»Du auch, Reg!«, hielt der Techniker dagegen. »Die Lichtsekunde trennt uns in beide Richtungen. Pass nur auf! Wenn Pounder mitbekommt, wie es um deine Physik steht, lässt er ein Shuttle klarmachen und jagt es hinter euch her, um dich abführen zu lassen!«
»Nur zu! Dann bin ich wenigstens raus aus dieser Büchse!«
»Klar! Und sobald du ...« Raimond brach ab. Lange Sekunden verstrichen, dann sagte er teilnahmslos. »Bremsphase beginnt in dreißig Sekunden. Mannschaft in Position!«
Über 300.000 Kilometer trennten Rhodan von Nevada Fields, aber er konnte sich ausmalen, was geschehen war. Pounder hatte das Kontrollcenter betreten, und die Hundertschaft Techniker, die eben noch mit den Füßen auf den Tischen ihrem Dienst nachgegangen war, saß jetzt kerzengerade vor ihren Displays. Der alte Knochen verstand keinen Spaß. Dienst war Dienst und eine todernste Sache.
»Zehn Sekunden bis zur Bremsphase. Fünf, vier, drei, zwei, eins, null!«
Mit einem brutalen Schlag setzten die Triebwerke der STARDUST ein. Der Andruck presste die Astronauten mit dem Neunfachen ihres Gewichts in die Konturliegen. Rhodan schloss die Augen, konzentrierte sich auf die bunten Schleier, die auf den Netzhäuten tanzten, um den Schmerz zu vergessen. Es gelang ihm nicht vollständig. Drei Flugtage in Schwerelosigkeit hatten bereits genügt, damit der Körper begann, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen.
Rhodan stellte sich vor, wie sich die STARDUST dem Mond näherte, ein flammender Stern, der einem Beobachter selbst mit dem bloßen Auge nicht verborgen bleiben konnte. Wie ihre Fahrt stetig dahinschmolz und schließlich auf dreieinhalb Kilometer pro Sekunde herabsank, einen Wert, der es dem Schwerefeld des Mondes erlauben würde, das winzige Raumschiff einzufangen und in einen Orbit zu zwingen. Die STARDUST würde den Mond einmal umrunden, um unter erträglicher Belastung für die Besatzung ihre Fahrt abzubauen. Und natürlich zur Aufklärung. Die STARDUST sollte das Gelände vor der Landung sondieren, insbesondere die abgewandte Seite des Mondes, die seit dem Ausfall aller lunaren Satelliten wieder so rätselhaft war, wie sie es für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte gewesen war. Dann, nach der geglückten Umkreisung, würde die STARDUST den Landeanflug beginnen und bei Armstrong Base niedergehen.
Die Bremsphase endete. Rhodan und die übrigen Männer stöhnten erleichtert auf und genossen die wohltuende Schwerelosigkeit.
Zehn Sekunden später zündeten die Steuerdüsen der STARDUST und warfen das Schiff in einer präzisen Bewegung herum.
Vor der Cockpitscheibe, zum Greifen nahe, hing der Mond.
Das Manöver war eine Vergeudung von wertvollem Treibstoff, und dazu eine doppelte: Die STARDUST würde vor dem Landeanflug erneut umschwenken müssen. Doch Bull hatte es durchgesetzt. »Ihr setzt unsere STARDUST auf eine ... eine zickige Diva von Rakete, schießt uns zum Mond und dann gönnt ihr uns noch nicht einmal einen Blick?« hatte sich der Freund bei der ersten Flugbesprechung empört.
Und Pounder, der sonst mit derselben Zuverlässigkeit, mit der jeden Morgen die Sonne aufging, auf einen Angriff mit einem Gegenangriff reagierte, hatte Bull mit einem Blick bedacht, in dem Rhodan Respekt zu lesen glaubte, und war in seinem Programm fortgefahren, als wäre nichts geschehen. Aber als Rhodan einen Tag später den Ausdruck des Flugplans in den Händen gehalten hatte, war Bulls Manöver in ihm aufgeführt gewesen.
Der Mond wurde zusehends größer. Bald nahm er die gesamte Cockpitscheibe ein. Bull schaltete die Kabinenbeleuchtung aus. Die Displays dimmten automatisch herunter. Fahles Mondlicht flutete in die STARDUST.
Pounder meldete sich. Ein Räuspern, dann: »Meine Herren, alles in Ordnung?«
»Ja, Sir.« Rhodan als Kommandant übernahm es zu antworten.
»Alle Flug- und Diagnosewerte liegen innerhalb der Toleranzen«, sagte Pounder, als hätte er Rhodan nicht gehört.
»Das freut mich zu hören.«
»Ich habe eine Nachricht für Clark Flipper. Die Rettungsmannschaften haben einen weiteren Notruf in Morsekode aus dem Annapurna-Massiv aufgefangen. Es ist zu unregelmäßig, um von einem automatischen Sender zu stammen. Jemand in der Gruppe von Mr. Flippers ...«, Pounder zögerte, als er nach dem passenden Begriff suchte, »... von Mr. Flippers Gefährtin ist offensichtlich noch am Leben.«
»Danke!«, antwortete Flipper. »Das ist eine gute Nachricht.« Clark sagte es steif, aber Rhodan entgingen nicht die Tränen, die in seine Augenwinkel traten.
»Das dachte ich mir«, sagte Pounder. Und dann, nach einer Pause, die mehr als eine Sekunde maß, fuhr er fort: »Übrigens, Rhodan, ich muss Sie enttäuschen. Sie haben Ihre Wette verloren. Der Ausbruch des Mount St. Helens ist ausgeblieben.« Pounder räusperte sich. »Ich sehe, meine Herren, dass Sie in vierzehn Sekunden in den Schatten des Mondes treten. Wir sprechen uns wieder, wenn Sie aus ihm hervortreten. Pounder, Ende.«
Pounder hatte kaum zu Ende gesprochen, als Bulls Kopf herumruckte. »Eine Wette, Perry? Ich wusste nicht, dass Pounder wettet ...«
Rhodan sah auf die Instrumente. »Später, in Ordnung?«, sagte er. »Jeden Augenblick ...«
Dunkelheit erfüllte schlagartig die STARDUST, als sie in den Schatten des Mondes traten. Der Trabant schirmte sie vom Licht der Sonne ab, verschluckte ihre eigenen Funkwellen – sowie die von der Erde kommenden.
Der Ticker am unteren Rand des Cockpits, über den unablässig die Diagnosewerte von der Bodenstation gelaufen waren, fror ein, dann erschien eine Warnmeldung: »Verbindung abgebrochen!«
Die Männer der STARDUST hielten den Atem an. Sie warteten darauf, dass etwas – irgendetwas – passierte. Sie horchten in sich hinein und versuchten sich zu sagen, dass ihnen die Einsamkeit nichts ausmachte, dass die Nabelschnur der Kommunikation, die sie mit der Erde verbunden hatte, nur die Illusion von Sicherheit vermittelt hatte. Es nichts ausmachte, dass sie nicht mehr bestand.
Die Sekunden verstrichen.
Nichts geschah.
Bull holte tief Luft. »Verdammt, Perry! Weich mir nicht aus! Du und eine Wette! Du wettest nie. Und Pounder, der staubtrockene alte Knochen, weiß nicht einmal, was eine Wette ist. Raus mit der Sprache! Was ist da ...«
Mit einem Schlag, der die Luft aus Bulls Lungen presste, setzten die Triebwerke der STARDUST unvermittelt ein und schwenkten das Schiff herum. Bull brüllte auf, als die Triebwerke entgegen dem Flugplan hochfuhren. Sein Brüllen brach ab,