Boden strömen. Im Laufe des Nachmittags warf er auch die andere Hälfte fort. Jetzt blieben ihm überhaupt nur noch eine halbe Decke, der Zinnbecher und das Gewehr.
Eine unangenehme Halluzination begann sich seiner zu bemächtigen. Er war ganz überzeugt, dass er noch eine Patrone übrig hätte. Sie lag in der Kammer des Stutzens, und er hatte sie bisher einfach übersehen. Andererseits aber wusste er die ganze Zeit, dass die Kammer leer war. Die Halluzination wollte jedoch keiner vernunftmäßigen Überlegung weichen. Er konnte sie für Stunden verdrängen, dann aber öffnete er doch schnell die Kammer und musste feststellen, dass sie leer war. Und die Enttäuschung war genauso bitter, wie wenn er wirklich erwartet hätte, eine Patrone zu finden.
Eine halbe Stunde lang trottete er weiter. Dann tauchte die verrückte Halluzination wieder in seinem Gehirn auf. Und abermals bekämpfte er sie, und dennoch blieb sie hartnäckig, bis er, um sich zu vergewissern und sich von ihr zu befreien, wiederum die Gewehrkammer öffnete und feststellte, dass nichts vorhanden war. Zu anderen Zeiten wanderten seine Gedanken seltsamere Wege. Und während er wie ein lebloser Automat weiterwankte, nagten höchst merkwürdige Pläne und Einfälle wie Würmer in seinem Gehirn. Aber all diese Ausflüge aus der Wirklichkeit waren doch nur von kurzer Dauer, denn der stechende Schmerz, den der Hunger verursachte, rief ihn immer wieder zurück. Einmal wurde er von einem solchen Ausflug in die Welt der Fantasie ganz plötzlich durch ein Gesicht zurückgerufen, das ihn beinahe die Besinnung gekostet hätte. Er schwankte, taumelte und wankte wie ein Betrunkener, der sich vergebens bemüht, das Gleichgewicht zu bewahren. Vor ihm stand ein Pferd! Ein richtiges Pferd! Er wollte seinen Augen nicht trauen. Um ihn her lag ein dichter Nebel, der von flimmernden Lichtflecken gesprenkelt war. Er rieb sich wie ein Wilder die Augen, um klar sehen zu können – und bei Gott: Es war kein Pferd, sondern ein großer brauner Bär! Das Tier beobachtete ihn mit kriegerischer Neugierde.
Der Mann hatte sein Gewehr schon halb an die Schulter gehoben, als er sich klarmachte, dass er ja keine Patrone darin hatte. Er senkte es wieder und zog sein Jagdmesser aus der mit Glasperlen bestickten Scheide an seiner Hüfte. Es war sehr scharf. Und es hatte eine scharfe Spitze. Er wollte sich auf den Bären stürzen und ihn töten. Aber sein Herz begann wieder sein warnendes Pochen: dump … dump … dump … Dann kamen das wilde Hüpfen und das aufgeregte Flattern, der eiserne Ring, der sich um seine Stirn presste, und dann kroch das Schwindelgefühl schleichend durch sein Gehirn.
Sein verzweifelter Mut wurde von einer mächtigen Woge von Angst besiegt. Was sollte er in seiner verdammten Schwäche tun, wenn das Tier ihn angriff? Er nahm sich zusammen und stellte sich in seine imposanteste Positur, fasste das Messer fest und starrte den Bären scharf an. Das mächtige Tier machte mit plumper Bewegung einige Schritte vorwärts, stellte sich auf die Hinterbeine und ließ versuchsweise ein Knurren hören. Wenn der Mann lief, würde es ihm nachlaufen – aber er lief nicht. Jetzt war er von der Kühnheit der Angst beseelt. Auch er knurrte, wild, schreckenerregend. Und verlieh auf diese Weise der Angst Stimme, die dem Lebenswillen so nahe verwandt und mit den tiefsten Wurzeln des Lebens verbunden und verwachsen ist.
Der Bär entfernte sich langsam, während er drohend knurrte, sich aber in Wirklichkeit selbst vor dem seltsamen Geschöpf, das so aufrecht und furchtlos dastand, fürchtete. Der Mann aber rührte sich nicht. Wie eine Statue blieb er stehen, bis die Gefahr verschwunden war. Dann gab er der Schwäche nach und sank erschöpft und zitternd in das feuchte Moos.
Wieder raffte er sich auf und wanderte weiter. Aber jetzt hatte er eine neue Art von Furcht kennengelernt. Es war nicht die Furcht vor dem passiven Tod des Verhungerns, sondern die, durch äußere Gewalt vernichtet zu werden, ehe die Entbehrungen das letzte Streben, das den Willen zum Leben aufrecht hielt, in ihm vernichtet hätten. Da waren zum Beispiel die Wölfe. Ihr Heulen erscholl von allen Seiten in der Einöde und verwandelte die Luft in eine Werkstatt der Drohung, der Vernichtung und dunkler Gefahren. Und so erfüllt war die Luft von diesen schreckeinflößenden Tönen, dass er sich selbst dabei ertappte, wie er die Arme emporstreckte und sich körperlich dagegen stemmte, als ob es die Wand eines vom Winde umtobten Zeltes wäre.
Wieder und wieder kreuzten die Wölfe in kleinen Rudeln von zwei oder drei Stück seinen Weg. Aber sie hielten sich von ihm weg. Sie waren nicht zahlreich genug, und außerdem jagten sie die Renntiere, die nicht kämpften, während sie nie wissen konnten, ob dieses seltsame Geschöpf, das auf zwei Beinen aufrecht herumlief, nicht vielleicht doch kratzte oder biss.
Im Laufe des späten Nachmittags kam er an eine Stelle, wo abgenagte Knochen verrieten, dass die Wölfe ein Tier getötet hatten. Es war, wie er aus den Überresten feststellte, ein Renntierkalb, das noch vor einer Stunde munter herumgelaufen und äußerst lebendig gewesen war. Er betrachtete die Knochen, die so sauber abgenagt waren, als ob man sie gewaschen und poliert hätte, und die noch einen rosigen Ton zeigten, weil das Leben, das in ihren Zellen gewirkt hatte, noch nicht endgültig erloschen war. Konnte es geschehen, dass, ehe der Tag zu Ende gegangen, von ihm selbst nichts weiter übrig war? So war das Leben ja. Ein eitles und flüchtiges Etwas. Und nur das Leben war eine Qual. Der Tod hatte keine Stacheln. Der Tod war nur Schlaf. Er bedeutete Aufhören. Ruhe. Frieden. Warum in aller Welt wollte er da nicht gerne sterben?
Aber er moralisierte nicht allzulange. Er hockte im Moos und begann an den Resten vom Leben zu saugen, die noch von dem zarten Rosa der lebendigen Kraft getönt waren. Der süße Geschmack vom Fleisch, der nur leise und unwirklich wie eine Erinnerung war, machte ihn vollkommen verrückt. Seine Kiefer umschlossen die Knochen und kauten drauflos. Zuweilen waren es die Knochen, bisweilen aber auch seine Zähne, die zersprangen. Dann zermalmte er die Knochen zwischen zwei Steinen, mahlte sie zu einem Brei, den er schluckte. Hin und wieder quetschte er sich bei der Eile auch die Finger, und doch fand er einen Augenblick Zeit, darüber zu staunen, dass es nicht besonders wehtat, wenn er die Finger versehentlich mit dem schweren Stein traf.
Es kamen schreckliche Tage mit Schnee und Regen. Er wusste gar nicht mehr, wann er lagerte und wann er wieder aufbrach. Er wanderte ebenso oft nachts wie am Tage. Er blieb liegen, wo er zufällig umfiel, und kroch weiter, sobald der sterbende Lebenswille in ihm aufflackerte und ein wenig klarer brannte. Als Einzelwesen kämpfte er überhaupt nicht mehr. Es war das Leben selbst in ihm, das ihn vorwärts trieb. Er litt nicht mehr. Seine Nerven waren abgestumpft und unempfindlich geworden. Aber seine Seele wurde von wunderbaren Visionen und herrlichen Träumen erfüllt.
Und die ganze Zeit ging er und sog und nagte an den zersplitterten Knochen des Renntiers, denn er hatte die letzten elenden Reste aufgesammelt