richtige Ecke?«
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Mitte April wurde am Hendersonfluss Gold gefunden; die Sache sah vielversprechend aus. Jacob Welse bereiste den Distrikt, und Frona begleitete ihn, denn es war eher eine Vergnügungs- als eine Geschäftsreise. Bald nach ihnen zog Gregory St. Vincent denselben Weg. Corliss und Bishop waren zunächst den linken Arm des Henderson hinaufgewandert. In einer Woche wollten sie auch bei den neuen Funden sein. Dann kam der Mai; jetzt war der Frühling so vorgeschritten, dass es gefährlich wurde, auf den Flüssen zu reisen. Über halb aufgetautes Eis zogen die Goldsucher und dankten Gott, wenn sie lebendig ihr Ziel erreichten. Es standen schon ein paar Hütten in der Nähe der neuen Funde, und ihre gastlichen Besitzer nahmen viele der Neuangekommenen auf. Welse und seine Tochter kampierten im Zelt, ihr Lager auf einem Höhenzug am oberen Ende von »Split-up-Island« im Yukon beherrschte wie ein Königssitz die ganze Gegend.
Die zunächst gelegene Insel hieß Freitags-Insel. Die beiden waren nur durch einen schmalen Kanal voneinander getrennt. Hier trafen Corliss und Bishop ein, als das Eis schon so morsch war, dass die Hunde beinahe ebensoviel schwimmen wie laufen mussten. Sie waren die letzten, die sich in diesem Winter über das Eis gewagt hatten. Nahe davon, auf Roubeau-Insel, hauste John Borg, ein mürrischer, alternder Bursche, der ungern sprach und sich am liebsten von der ganzen übrigen Menschheit abgesondert hätte. Zu seinem Unglück fand Gregory St. Vincent in seiner Hütte Quartier.
»Es ist nur wegen der Lausedollars«, sagte der Mann. »Gern nehm’ ich Sie nicht etwa auf. Werfen Sie Ihre Decken in die Ecke. Bella kann die eine Koje ausräumen. Wir brauchen sie sowieso nicht.«
Er öffnete den Mund erst wieder am Abend, um zu sagen: »Ihr Essen kochen Sie sich selber. Wenn das Mädel am Ofen fertig ist, können Sie anfangen.«
Das Mädel Bella war die schönste Indianerin, die Gregory je gesehen hatte. Sie hatte nicht die fettig dunkle Haut ihrer Rasse, sondern einen klaren, bronzefarbenen Teint, und ihre Züge waren weicher, edler, als man es in der Regel bei Indianerinnen findet.
Nach dem Abendbrot legte Borg beide Ellenbogen auf den Tisch, stützte sein Kinn in die mächtigen Fäuste, rauchte stinkenden Indianertabak und starrte vor sich hin. Sein Gesicht war unbeweglich wie eine Holzschnitzerei.
»Wohl schon lange im Land, alter Freund?« fragte St. Vincent, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
Borg wandte ihm seinen düsteren Blick zu. Es war, als sähe er in ihn hinein, durch ihn hindurch und doch an ihm vorbei. Während er St. Vincent betrachtete, schien er ganz zu vergessen, dass dieser Mann überhaupt existierte. Worüber er wohl grübeln mag? dachte der Geograf, indem er sich eine Zigarette drehte. Diese erste Zigarette war schon in duftenden Rauchringen aufgegangen. Eine zweite kam an die Reihe, als Borg endlich den Mund auftat.
»Fünfzehn Jahre«, sagte er, sonst kein Wort.
Eine halbe Stunde lang studierte Gregory wie fasziniert dies unergründliche Gesicht. Der Kopf war riesengroß, aber nicht zu groß für den mächtigen Stierhals, der ihn trug. Jede Einzelheit an diesem Kopf schien gewaltig entworfen, aber nicht ganz fertig geworden. Es war der unfertige Kopf eines alternden Riesen. Sein Haar verfilzte sich hier und da zu seltsamen, grauen Flecken und ringelte sich dann wieder in schwarzen Locken, so dick wie gekrümmte Finger. Der Backenbart fiel wie in dicken Grasbüscheln, halb schwarz, halb grau, auf die Brust herab, aber er war nur tupfenweise in dem Gesicht angesetzt und konnte weder die großen, hohlen Backen noch die dünnen und grausamen Lippen verbergen. Die Stirn war es, die das eigentlich Widerspruchsvolle in John Borgs Gesicht brachte. Es war eine hochgewölbte, breite und fast edle Stirn. Wer sie allein sah, hätte gedacht, sie sei das Bollwerk einer allumfassenden Intelligenz.
Beim Geschirraufwaschen ließ Bella eine schwere Blechtasse fallen. In die völlige Stille hinein wirkte das Dröhnen wie eine ungeheure Sensation. Borg fuhr mit einem unartikulierten Gebrüll empor, dass sein Stuhl schmetternd umfiel; er stand aufrecht da mit flammenden Augen und wutverzerrtem Gesicht. Bella gab ein tierisches Wimmern von sich und lag sofort zu seinen Füßen gekrümmt, wie ein Hund, der die Peitsche erwartet.
Auf St. Vincents Kopf sträubten sich die Haare. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Was würde jetzt geschehen? Aber Borg hob den Stuhl auf und fiel in seine alte Stellung zurück, das Kinn in die Fäuste gestützt. Bella arbeitete vorsichtig mit den Tellern weiter, es fiel kein Wort, und während St. Vincent mit zitternden Händen seine nächste Zigarette drehte, fragte er sich, ob all das ein Traum gewesen sei.
Jacob Welse lachte, als Gregory ihm am anderen Tag die Geschichte erzählte.
»So ist dies knurrige alte Biest, genau so verrückt, wie es aussieht. Er ist mehr Jahre im Land, als er Menschen kennengelernt hat. Ich glaube, dass er in ganz Alaska keinen einzigen Freund hat, nicht einmal unter den Indianern, mit denen er viel zusammen ist. Sie nennen ihn: ›Jonny Halbverdreht‹, aber ebenso gut könnten sie ihn ›Jonny Schlagzu‹ nennen. Er ist jähzornig und hat eine schwere Tatze. Stellen Sie sich vor, wozu der Kerl imstande ist. Einmal hatte er eine Meinungsverschiedenheit mit meinem Faktor in Arktik City. Er hatte absolut recht, aber bei dem Faktor war es nur ein Irrtum, kein böser Wille. Was tut der Rübezahl? Erklärt meine ganze Unternehmung in seinen Boykott und lebt ein volles Jahr lang ausschließlich von Fleisch. Dann traf ich ihn zufällig und erklärte ihm die ganze Sache, und dann hat er wieder bei uns gekauft.«
»Und das Mädel?«
»Das hat er sich irgendwo aus dem höchsten Norden heruntergeholt. Ich beneide sie nicht. Dem sein Bettschatz zu sein, das ist kaum ein Vergnügen.«
Gregory St. Vincent kümmerte sich nicht viel um seine Wirte. Die meiste Zeit verbrachte er auf Split-up-Island mit Frona und ihrem Vater. Aber eines Abends kam es doch zu einem Zusammenstoß. Als St. Vincent nach Hause kam, saß der Alte im letzten dünnen Licht der Sonne vor seiner Hütte, und nahe von ihm stand Bella an einer Waschwanne. Es war ein klobiges, selbstgezimmertes Ding und, wenn sie halb voll Wasser war, viel zu schwer, als dass eine Frau sie heben konnte. Als Bella das Wasser wechseln wollte, sprang St. Vincent herbei, um zu helfen. Sie nahmen die Wanne zwischen sich und gingen ein paar Schritte weit zu einem Abflussrohr. Zuerst rutschte St. Vincent im halb aufgetauten Schnee aus, und das Seifenwasser übersprudelte ihn. Dann glitt Bella aus, und ein paar Schritte weiter fielen sie beide um. Es tat nicht weh, sie fanden es lustig; Bella kicherte laut, und St. Vincent lachte mit. In der Luft und in ihrem Blute war Frühling. An diesem Tag war alles zum Lachen. Aber sie hatten nicht bemerkt, dass Borg die Ohren spitzte. Als sie die Wanne zurücktrugen, passierte