Robert sah seinen Freund ent-geistert an. »Wie kannst du so etwas sagen? Natürlich liebe ich Sabine.«
»Wenn du das tätest, würdest du auch mal an sie denken und nicht immer nur an dich. Sie leidet da-runter, dass sie dich ständig abweisen muss, weil du offenbar taub bist. Du vermiest ihr das Leben.« Er sah, dass seinem Freund dieser Gedanke offenbar noch nie gekommen war.
»Ich … ihr?«, fragte Robert zweifelnd. »Aber sie macht mich unglücklich, Carl!«
Geduldig setzte Carl ihm seinen Gedanken noch einmal ausführlich auseinander. »Wenn du sie liebst«, beendete er seinen Vortrag, »dann müsstest du wollen, dass es ihr gut geht – und nicht, dass sie sich ständig mit einem schlechten Gewissen herumplagen muss.«
»Mann«, sagte Robert endlich, »wenn das wahr wäre, dann müsste ich aber wirklich umdenken.«
»Es ist wahr, und du musst umdenken, Robert.«
»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte Robert nach einer Weile überraschend. »Ich habe mich lange genug zum Narren gemacht, das muss aufhören. Sabine ist ja beinahe so etwas wie eine fixe Idee für mich geworden.«
»Das klingt ja fast so, als hättest du etwas begriffen.«
»Habe ich – es ist nur trotzdem schwer, sein Verhalten zu ändern. Hast du noch nie Liebeskummer gehabt? Ich meine, weil du total verknallt warst, deine Angebetete aber nichts von dir wissen wollte?«
»Doch, das habe ich auch schon erlebt«, gab Carl zu, »aber da war ich sechzehn, siebzehn. Seitdem verliebe ich mich nicht mehr in Frauen, die mich nicht wollen – das ist besser für mich.«
Robert gab eine Art Grunzlaut von sich und wechselte das Thema. Der Name Sabine fiel kein einziges Mal mehr an diesem Abend.
*
Albertina saß beim Essen zwischen Baron Friedrich von Kant und Graf Ernst zu Kallwitz – und sie fühlte sich wider Erwarten gut unterhalten. Sie war nur ihren Eltern zuliebe hier, die sie sehr liebte und denen sie ewig dankbar dafür sein würde, dass sie Ingenieurin hatte werden dürfen, obwohl vor allem ihre Mutter das »wenig weiblich« fand. Hätte Eliane geahnt, in welch rauer Gesellschaft sich ihre Tochter auf Baustellen befand und wie sie sich dort Tag für Tag durchsetzen und bewähren musste – sie hätte wahrscheinlich keine ruhige Minute mehr gehabt.
Albertina trennte ihre beiden Leben fein säuberlich voneinander, das bereitete ihr keine Schwierigkeiten – wobei freilich feststand, dass ihr alles, was mit ihrem Berufsleben zusammenhing, viel wichtiger war als die sogenannten »gesellschaftlichen Verpflichtungen«. Auf die hätte sie gern verzichtet, wären nicht ihre Eltern gewesen, denen sie keinen Kummer bereiten wollte. Auf Baustellen und mit ihren »Kumpels« fühlte sie sich allemal wohler als bei eleganten Einladungen. Manchmal stellte sie sich vor, Kurt und die anderen könnten sie sehen, wenn sie in vornehmen Villen oder auf Schlössern dinierte – das reizte sie jedes Mal zum Lachen.
Dieser Abend allerdings verlief anders als sonst. Das lag an ihren beiden Tischherren, die offenbar so wenig Interesse wie sie selbst an belanglosem Geplauder hatten. Baron Friedrich fragte sie gleich zu Beginn des Essens, was sie beruflich machte, da ihre Mutter erwähnt habe, sie sei so eingespannt.
Kaum hatte Albertina erzählt, dass sie Ingenieurin war, hatte sich auch Graf zu Kallwitz in das Gespräch eingeklinkt. »Wie interessant! Ich habe früher selbst mit der Idee geliebäugelt, diesen Beruf zu ergreifen. Leider ist es anders gekommen – ich musste in die väterliche Firma einsteigen. Aber ich trauere dieser verpassten Gelegenheit noch immer ein wenig nach, muss ich gestehen.«
Die beiden Herren erkundigten sich eingehend nach Albertinas Berufsalltag, und sie erzählte ihnen bereitwillig davon, obwohl ihr auffiel, dass ihre Mutter ihr immer wieder beunruhigte Blicke zuwarf. Arme Mama, dachte sie, sie leidet schon wieder, weil ich über »unweibliche« Themen spreche.
»Wie interessant«, meinte Graf Ernst. »Sie bauen also an dieser Riesenbrücke mit?«
»Ja, schon seit einem Vierteljahr. Sie soll ja pünktlich fertig werden.«
»Aber das klappt doch garantiert nicht?«
»Doch, das klappt – jedenfalls, wenn es nach uns geht. Wir sind gut in der Zeit, trotz einiger Rückschläge.«
»Sie sind doch wahrscheinlich die einzige Frau auf der Baustelle, oder? Ist das nicht schwierig, sich da durchzusetzen?«, fragte Baron Friedrich.
Sofort war Albertina auf der Hut. Über diesen Teil ihrer Arbeit gab sie niemals Auskunft. Sie legte nicht den geringsten Wert darauf, dass jemand, den sie privat kannte, mitbekam, wie es auf Baustellen zuging. Das war eine eigene Welt, niemand, der hier am Tisch saß, konnte sich das vorstellen.
»Es geht schon«, antwortete sie ruhig. »Ich bin ganz gut in meinem Job, das wird respektiert.«
Der Baron nickte, sie sah ihm jedoch an, dass er noch weitere Fragen zum Thema stellen wollte, denn ganz zufrieden war er offenbar nicht mit ihrer Antwort. Um ihm zuvorzukommen, beschloss sie, das Thema zu wechseln. Was konnte sie ihn fragen? Womit würde er sich ablenken lassen? Ihr fiel ein, dass er mit seiner Familie auf Schloss Sternberg lebte – das sollte doch eigentlich genug Gesprächsstoff bieten!
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr von Kant?«
»Aber natürlich, nur zu. Was möchten Sie wissen?«
»Wie schafft es ein fünfzehnjähriger Junge, den Verlust beider Eltern zu verkraften? Helfen Sie und Ihre Frau Christian von Sternberg dabei – oder lehnt er Hilfe eher ab.«
Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, und beinahe schämte sie sich, diese Frage gestellt zu haben. Doch sie hatte ihn nicht nur ablenken wollen, die Antwort interessierte sie tatsächlich.
Als das Fürstenpaar von Sternberg vor etlichen Monaten tödlich verunglückt war, hatte das ganze Land Anteil genommen am Schicksal des fünfzehnjährigen Prinzen Christian von Sternberg. Er war von der Familie seiner Tante Sofia von Kant aufgenommen worden, einer Schwester seiner Mutter. Familie von Kant lebte bereits seit vielen Jahren ebenfalls auf Sternberg.
»Er stattet seinen Eltern jeden Tag einen Besuch auf dem Friedhof ab«, antwortete Friedrich jetzt, »und erzählt ihnen in Gedanken, was sich in seinem Leben ereignet hat. Das hilft ihm sehr. Außerdem ist es natürlich gut, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte und in gewisser Weise ohnehin schon Teil unserer Familie war. Wir haben ja ziemlich eng zusammengelebt auf Sternberg. Unsere beiden Kinder sind praktisch von Anfang an wie Geschwister für ihn gewesen.«
»Der kleine Fürst«, sagte Albertina nachdenklich.
»Ja, der kleine Fürst.«
»Warum wird er eigentlich so genannt?«
»Weil er noch kein Fürst ist, das wird er ja erst mit achtzehn. Und früher, als er wirklich noch klein war, haben die Leute ihn im Unterschied zu seinem Vater so genannt. Leopold war ja sehr groß – und so hieß es dann scherzhaft: der große und der kleine Fürst.«
»Es hört sich nett an.«
»So ist es auch gemeint. Ein Kosename. Christian ist sehr beliebt, zu Recht übrigens. Ein großartiger Junge. Etwas zu ernst für sein Alter vielleicht, aber das ist ja kein Wunder.«
»Waren Sie noch nie auf Sternberg?«, warf Graf Ernst ein.
»Nein«, antwortete Albertina. »Dabei liegt es ja ganz in der Nähe, aber ich bin noch nie dort gewesen.«
Ihre Mutter hatte die letzten Sätze gehört. »Aber natürlich warst du schon auf Sternberg, Albertina!«, rief sie. »Wir haben früher gelegentlich Ausflüge dorthin gemacht, das hast du nur vergessen. Du warst noch ein Kind damals. Einmal waren wir zum Beispiel anlässlich eines großen Wohltätigkeitsbasars dort – wir haben Kuchen verkauft.«
»Das weiß ich noch!«, sagte Albertina. »Aber ich wusste nicht, dass das auf Schloss Sternberg war. Da muss ich fünf oder sechs gewesen sein.«
Ihre Mutter nickte und