vor dem Kamin noch einen Kaffee zu trinken, verabschiedete sich Albertina. Sie war so müde, dass sie sich am liebsten oben in ihr altes Kinderzimmer gelegt und dort geschlafen hätte – doch das war aus verschiedenen Gründen ein Ding der Unmöglichkeit. Sie musste nach Hause, und das so schnell wie möglich.
Als sie Baron Friedrich die Hand reichte, sagte dieser: »Besuchen Sie uns auf Sternberg, wann immer Sie wollen. Wir würden uns sehr da-
rüber freuen, Frau von Braun.«
Sie bedankte sich für die Einladung und versprach, darüber nachzudenken. Im Wagen drehte sie die Musikanlage auf – sie musste sich ja noch einige Zeit wach halten.
*
Christian von Sternberg, genannt der kleine Fürst, sah auf, als seine Cousine Anna von Kant die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Sie war zwei Jahre jünger als er und nicht nur seine Cousine, sondern auch seine beste Freundin. Mit ihr konnte er über alles reden. »Ich kann nicht schlafen«, verkündete sie. »Deshalb wollte ich sehen, ob du auch noch wach bist.«
»Komm rein«, sagte er. »Wir können uns noch einen Film zusammen ansehen, wenn du willst.«
Sie nickte und ließ sich auf sein Bett fallen. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Fernsehapparat lief. »Was läuft denn?«
Christian warf einen Blick auf den Bildschirm, der Ton war leise gestellt. »Ich habe nur Nachrichten angesehen, hier aus der Region. Sie haben über diese Riesenbrücke berichtet, die gerade gebaut wird.«
»Wahnsinnig interessant«, murmelte Anna.
Er musste lachen, als er ihr gelangweiltes Gesicht sah. »Mich hat es schon interessiert«, erklärte er. »Das ist ein gigantisches Unternehmen – du machst dir keine Vorstellung davon, wie viele Tonnen Beton die da verbauen.«
»Von mir aus«, meinte Anna und unterdrückte ein Gähnen. »Also, was gucken wir jetzt an? Du hast von einem Film gesprochen.«
Christian nahm die Fernbedienung vom Tisch, warf einen Blick in die Zeitung und wählte dann einen anderen Sender. Der Vorspann lief bereits, sie sahen gerade noch die Titel.
Sofort war Anna wieder hellwach. »Super, den kenne ich noch gar nicht!«, rief sie.
»Dann ist der Abend ja gerettet«, stellte Christian fest. »Deine Eltern kommen bestimmt erst spät wieder, oder?«
»Ich schätze schon.« Anna stopfte sich ein paar Kissen ins Kreuz, um besser zu liegen. »Sie sind ja zum ersten Mal bei diesen neuen Bekannten – da dauert es bestimmt etwas länger.«
Christian streckte sich neben ihr aus. Der Film begann.
*
»Willst du schon wieder Schicksal spielen?«, fragte Graf Ernst zu Kallwitz mit gutmütigem Lächeln. »Lass das sein, Caroline, du weißt, dass unser Sohn keine Einmischung in sein Privatleben wünscht. Und wenn du es genau wissen willst: Das kann ich sehr gut nachvollziehen.«
»Aber sie ist reizend, Ernst!«, rief Gräfin Caroline. »So natürlich, so lebhaft, dabei klug und auch noch hübsch anzusehen. Wir können Carl immerhin ein bisschen von ihr vorschwärmen. Du bist doch selbst ganz hingerissen von ihr.«
»Sie hat mir gut gefallen, das stimmt. Sonst sind die Gespräche bei solchen Gelegenheiten ja in ihrer Belanglosigkeit häufig nicht zu unterbieten, aber mit ihr konnte man sich richtig gut unterhalten. Auch Fritz war sehr angetan von der jungen Dame.«
»Alle sind also begeistert von ihr – und ich darf unserem Sohn nichts davon sagen?«, rief Caroline temperamentvoll.
Er legte begütigend eine Hand auf ihren Arm. »Du darfst ja«, sagte er. »Du solltest ihm bloß nicht sagen, dass Albertina von Braun die geeignete Frau für ihn wäre, denn dann verschließt er sich garantiert wie eine Auster.«
»Ja, da kannst du Recht haben«, gab sie zu. »Also werde ich ganz diplomatisch vorgehen.«
Ernst zu Kallwitz schmunzelte in sich hinein. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass die Begeisterung mit ihr durchgehen und sie alle Vorsicht vergessen lassen würde. Aber das ließ sich wohl kaum verhindern, also konnte er sich weitere Vorhaltungen sparen. »Tu das, meine Liebe«, sagte er und gab ihr einen Kuss. »Ich werde dich aber, wenn ich darf, vorher noch einmal an deinen Vorsatz erinnern.«
Sie kniff ihn liebevoll in die Wange. »Du denkst, mit mir gehen wieder die Pferde durch, Ernst, aber das wird nicht der Fall sein. Ich lasse ihn nicht merken, was ich mir wünsche, du wirst schon sehen.«
Er küsste sie erneut. »Lass uns schlafen gehen«, schlug er vor. »Es ist spät genug geworden, und bis Carl am Sonntag kommt, haben wir ja noch Zeit, darüber zu reden, wie du Albertina von Braun am unauffälligsten ins Gespräch bringen kannst.«
Sie nickte und unterdrückte ein Gähnen. Ihr letzter Gedanke vor dem Schlafengehen galt noch einmal Albertina: Wie schön wäre es, dachte sie, eine Schwiegertochter wie sie zu bekommen.
*
Die Holzbohle schien aus dem Nichts zu kommen und landete am Samstagmorgen mit einem unheilvollen Krachen auf Albertinas linkem Fuß. Vor Schreck und Schmerz wurde sie blass. Schnell sprangen zwei ebenfalls erschrockene Kollegen herbei und befreiten ihren Fuß. »Verdammt!«, fluchte sie. »Welcher Idiot hat die denn hier so geparkt, dass sie einen beinahe erschlägt?« Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die der Schmerz ihr unwillkürlich hatte in die Augen schießen lassen. Nach Luft japsend lehnte sie sich an eine Wand und hielt den lädierten Fuß in die Höhe. Er schmerzte teuflisch.
»Wird der Neue gewesen sein«, vermutete Kurt, der sie besorgt beobachtete. »Den nehme ich mir gleich mal zur Brust. Kommt mir sowieso etwas weich vor, der Knabe.«
Albertina humpelte ein paar Schritte, verzog dabei jedoch unwillkürlich das Gesicht. »Immerhin scheint der Fuß noch ganz zu sein«, murmelte sie.
Sie war hart im Nehmen, aber Kurt wusste genau, was eine Holzbohle anrichten konnte, wenn sie einem mit voller Wucht auf den Fuß fiel. »Hast du dir was angeknackst?«, fragte er.
»Nein, ich glaube nicht.« Sie riss sich zusammen. Es half niemandem, wenn sie mit schmerzverzerrtem Gesicht herumlief, aber sie beschloss, in der Frühstückspause nachzusehen, wie ihr Fuß aussah. Vermutlich wurde er blau und schwoll an. Nicht dran denken, beschwor sie sich, sie konnten sich im Augenblick keine Verletzten auf der Baustelle leisten. Der Zeitplan war unerbittlich, und sie hatten nun einmal ihren Ehrgeiz dareingelegt, dass sie rechtzeitig fertig wurden. Sie ließ sich nicht gern nachsagen, dass sie ihren Verpflichtungen nicht nachkam. Zwar war niemand gegen höhere Gewalt gefeit, gegen eigene Dummheit aber schon. Wäre sie nicht so verdammt müde gewesen, hätte sie das Ungemach gesehen, das ihr drohte. Die Bohle hatte da nicht zu stehen gehabt, das war zweifellos richtig, aber sie hätte sie einfach rechtzeitig bemerken müssen. Aber wenn man gerade gähnte und dabei die Augen schloss, weil man am Abend zuvor zu lange wach geblieben
war …
»Setz dich mal einen Moment hin«, hörte sie Kurt hinter sich sagen, während er sie mit sanfter Gewalt auf einen Hocker drückte. Im nächsten Moment reichte er ihr einen Becher Kaffee. »Trink den auf den Schreck«, kommandierte er.
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Kurt konnte sehr rüde Umgangsformen an den Tag legen, aber ihr gegenüber benahm er sich immer tadellos – und er beschützte sie ganz unauffällig. Natürlich war ihm klar, dass sie den meisten Kollegen an Kraft unterlegen war, und so wusste er es zu verhindern, dass sie sich mit ihnen messen musste.
»Und jetzt zieh den Stiefel aus, ich will mir das ansehen.«
Sie gehorchte. Ihre Vermutungen erwiesen sich als richtig: Der Fuß war bereits blau, er schwoll an, aber mehr als eine Prellung hatte sie nicht davongetragen.
»Glück gehabt«, kommentierte Kurt. »Das musst du heute Abend kühlen. Und jetzt zieh schnell den Stiefel wieder an, sonst kommst du nicht mehr rein.«
Sie gehorchte. Nachdem sie den Kaffee getrunken hatte, ging es ihr besser. Der Fuß schmerzte zwar, aber es ließ sich aushalten.