Kuno Fischer

Schopenhauer


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der »Gelehrsamkeit«, sondern Wohlstand, Unabhängigkeit und »freie Menschenbildung«57 kennzeichnen die urbane Atmosphäre des von Danzig, dem Geburtsort Schopenhauers, nach Hamburg übersiedelten Handelshauses, aus dem Schopenhauer stammt und das weiterzuführen er von seinem Vater bestimmt ist. Seine Erziehung erhält er in vornehmen privaten Instituten im In- und Ausland, ausgedehnte Reisen (Holland, Belgien, England, Frankreich, Schweiz, Österreich) geben ihm die Möglichkeit, im »Buch der Welt« zu lesen und sich mehrere Fremdsprachen mit einer Vollkommenheit anzueignen, die ihm in späteren Jahren die Übersetzung schwierigster philosophischer Texte ermöglicht. Nach dem tragischen Tod des Vaters (1805), der Auflösung des väterlichen Geschäftes und der Übersiedelung von Mutter und Schwester nach Weimar ergibt sich endlich auch für Schopenhauer die Möglichkeit, das verhasste »Comptoir«, in das einzutreten er sich im Anschluss an die Europareise verpflichtet hatte, hinter sich zu lassen und seinen auf Poesie, Kunst und Wissenschaft gerichteten Neigungen zu folgen. Da ihm die Voraussetzungen für ein Studium fehlen, beginnt die Auseinandersetzung mit der Welt der Bücher nunmehr, wiederum in Umkehrung des natürlichen Lebenslaufes – »erst die Wanderjahre, dann die Lehrjahre«58 – mit dem Besuch des humanistischen Gymnasiums (1807), dessen Lernstoff der Hochbegabte sich in so kurzer Zeit aneignet, dass er schon 1809 sein Studium an der Universität Göttingen beginnen kann. Schopenhauer setzt das Studium 1811 an der Universität Berlin fort und wird schließlich 1813 in Jena mit der Dissertation »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« zum Doktor der Philosophie promoviert.

      Fischers Darstellung ist dadurch charakterisiert, dass sie den Fortgang des Lebens (Biographie), das Werden des Werkes (den Entwicklungsgang seines Denkens) und Schopenhauers Persönlichkeit in unmittelbarer Aufeinanderbezogenheit herausarbeitet. In diesem Sinn qualifiziert er den Rat seines Göttinger Lehrers Gottlob Ernst Schulze, zuallererst und vor allem Platon und Kant zu studieren, als die »folgenreichste Begebenheit seiner geistigen Bildungsgeschichte«59, die Lektüre Kants greift wegweisend in Schopenhauers Entwicklung ein, ihr verdankt er die grundsätzliche Entscheidung für die philosophische Laufbahn, der Auseinandersetzung mit Kants Idealismus darüber hinaus die erkenntnistheoretische Grundlage seines Systems. Mit dem Hinweis auf Platon und Kant sind bereits zwei Säulen dieses Systems markiert, zu ihnen treten als dritte wesentliche Voraussetzung seiner Philosophie die Upanischaden – in die indische Philosophie wird er durch den Orientalisten Friedrich Majer eingeführt.

      In Weimar wird die Mutter Johanna Schopenhauer, die später als Reise- und Romanschriftstellerin Berühmtheit erlangt, zum Mittelpunkt eines schöngeistigen Salons, zu dessen bedeutendsten Besuchern Goethe gehört. Im Salon der Mutter, mit der er sich allzu rasch endgültig überwirft, lernt auch Schopenhauer Goethe kennen, den er zeit seines Lebens schätzt und verehrt. Von ihm persönlich in seine Farbenlehre eingeführt, nimmt der gelehrige Schüler die Gedanken des Meister mit solcher Selbständigkeit auf, dass Goethe sehr bald Grund zu Klagen hat: er sieht das Verhältnis Schüler – Meister für seinen Geschmack zu schnell sich ins Gegenteil verkehren. Ebenso beurteilt Goethe später auch Schopenhauers Schrift: »Über das Sehn und die Farben« (1815), die dieser als philosophische Begründung und Fortbildung der Goetheschen Farbenlehre versteht. In Dresden entsteht Schopenhauers philosophisches Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, das 1819 vom Verlag F. A. Brockhaus veröffentlicht wird und, die Erwartungen von Autor und Verleger enttäuschend, zum geschäftlichen Misserfolg gerät. Eine Italienreise endet im Juni 1819 jäh durch die Nachricht vom Zusammenbruch des sein und seiner Familie Vermögen verwaltenden Handelshauses. Schopenhauer gelingt es, den drohenden Vermögensverlust durch kluges Taktieren abzuwenden; er fasst den Entschluss, die akademische Laufbahn einzuschlagen, habilitiert sich in Berlin und beginnt dort im Frühjahr 1820 seine Lehrtätigkeit als Privatdozent. Doch auch als Universitätslehrer ist Schopenhauer erfolglos, die wenigen Hörer bleiben nach einigen Semestern ganz aus und der Dozent ist auf Jahre nur noch in den Vorlesungsverzeichnissen zu finden. Er verlässt Berlin auf der Flucht vor der herannahenden Cholera, um sich ab 1833 in Frankfurt am Main dauerhaft niederzulassen. Die Arbeiten aus seiner zweiten literarischen Schaffensperiode, unter anderem die Schrift »Über den Willen in der Natur« (1836) und seine beiden ethischen Schriften, die von der norwegischen Sozietät 1839 preisgekrönte Schrift »Über die Freiheit des menschlichen Willens« und die von der dänischen Sozietät 1840 nicht preisgekrönte Schrift »Über das Fundament der Moral« teilen das Schicksal seines Hauptwerkes. Der schriftstellerische Erfolg und die Anerkennung durch die akademische Welt bleiben aus.

      Fischer zeichnet Schopenhauers Persönlichkeit als gleichermaßen hochbegabt und schwer belastet. Spottsucht und Rechthaberei bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten und zeigen uns schon den jungen Schopenhauer als einen eigenbrötlerisch-ungeselligen Menschen. Insbesondere eine Disposition zu Wahnideen und Angstgefühlen, unwiderstehliche Menschenscheu, Furcht, Argwohn und Misstrauen bleiben sein unbezwingbares väterliches Erbe und sind verantwortlich für eine Gemütsbeschaffenheit, auf deren Grund sich schon früh ein pessimistisches Lebensgefühl bemerkbar macht. Dagegen zeigt sich sein »intellektuelles Naturell […] mit dem ganzen Schwergewicht seines starken und heftigen Wollens angetan und ausgerüstet; er war berufen ein genialer Künstler zu werden, nicht ein solcher, der die Erscheinungen in Gestalten und Farben, sondern der das Wesen und die Beschaffenheit der Dinge in Begriffen darstellt und abbildet: ein Künstler, dessen Stoff in Erkenntnissen, Einsichten und Ideen besteht, die auf dem Weg der gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen Bildung und Arbeit erworben werden mussten.«60 Er hat tatsächlich, was ihm später zur Lehre wurde, den Charakter vom Vater und die Intelligenz von der Mutter geerbt.

      Bei aller Detailtreue kommt Fischer in der Nachzeichnung von Schopenhauers Biographie ganz ohne die sonst so beliebte Anekdote aus, dass er dabei auch auf Weichzeichnung und Schönfärberei verzichtet und die Schattenseiten und Widersprüchlichkeiten, die seinen Charakter prägen, nicht verschweigt, hat ihm Kritik unter jenen Anhängern Schopenhauers eingetragen, denen der verehrte Meister über allem steht – die sich auch heute noch als »Apostel« und »Evangelisten«61 in den Dienst seiner Sache stellen. Fischers Darstellung der Persönlichkeit Schopenhauers bleibt unvoreingenommen und fair auch dort, wo er uns den Philosophen als Menschen zeigt, der in mehr als einer Hinsicht imponiert, aber in kaum einer sympathisch erscheint. Von der Gehässigkeit, mit der etwa das erste Kapitel des Schopenhauer-Artikels in Fritz Mauthners »Wörterbuch der Philosophie«62 zu einer Abrechnung mit Fischers Schopenhauer-Darstellung gerät, ist Fischer selbst weit entfernt.63 Die eigene vornehme Gesinnung zeigt er am deutlichsten dort, wo er guten Grund gehabt hätte, Schopenhauer bloßzustellen, Schopenhauer hatte Fischers unrechtmäßige Aberkennung der Lehrbefugnis an der Heidelberger Universität mit den Worten kommentiert: »Es geschieht ihm sehr recht«64. Fischer weist auf diesen Kommentar ohne bittere Häme hin, wie sie einem kleinlich nachtragenden Gemüt wohl gerechtfertigt erschienen wäre – der mit den näheren Umständen nicht vertraute Leser erfährt nicht einmal, dass es sich bei dem denunzierten und vertriebenen Dozenten um Fischer selbst handelt.65

      Arthur Schopenhauer ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, dass sich Philosophie nicht auf Universitätsphilosophie beschränken lässt. Im Anschluss an Kant, für dessen einzig wahren und echten Thronerben er sich hält, und gleichzeitig völlig unbeeindruckt durch die Fortschritte, welche die Philosophie in Auseinandersetzung mit Kant, seit Kant erfahren hat, legt das Originalgenie als Dreißigjähriger sein Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung« vor, um den Rest seines Lebens an dessen Erweiterung, Vertiefung und Kommentierung zu arbeiten. Die thematischen Schwerpunkte dieses, aus der Explikation des einen Grundgedankens: die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens, hervorgehenden organischen Ganzen, sind: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik und Ästhetik. Dass er den Sinn der Weltgeschichte für Täuschung erklärt, vollends aber dass sein systematischer Entwurf zu Selbstverleugnung und Weltüberwindung führt, bringt Schopenhauer in schärfsten Gegensatz zur abendländischen Philosophie und jenem ihr immanenten Optimismus, der in Leibnizens Lehre von der besten aller möglichen Welten beredten Ausdruck gefunden hat.66

      Von der Universitätsphilosophie zeitlebens ignoriert, wird Schopenhauer nur zögernd, zunächst in Literatur und Kunst zur Kenntnis genommen, um im letzten Lebensjahrzehnt endlich als Misanthrop und Pessimist allgemein bekannt zu werden.