Kuno Fischer

Schopenhauer


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neuerdings Ludwig Schemanns Sammelwerk »Schopenhauer-Briefe« (1893) und die von Grisebach verfasste Lebensgeschichte Schopenhauers (1897).116

      Von den Werken Schopenhauers und deren Ausgaben wird in dem letzten Kapitel dieses Buches näher die Rede sein.

      Ich schreibe die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen der großen Periode, die unmittelbar von Kant ausging und durch die Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 begründet wurde. Diejenigen Leser, welche meine Geschichte der neuern Philosophie, insbesondere meine Darstellung und Kritik der kantischen Lehre kennen, sind schon über die Aufgabe und Stellung orientiert, die unter den nachkantischen Philosophen Schopenhauer einnimmt.117

      Er hatte die dreißig überschritten, als Ende des Jahres 1818 sein Hauptwerk die Presse verließ. In dem Verlaufe eines Menschenalters (1790 – 1820) waren aus der kantischen Philosophie eine Reihe neuer Systeme in verschiedenen Richtungen hervorgegangen; eine dieser Richtungen war in gerader Linie von Reinhold zu Fichte, von Fichte zu Schelling, von Schelling zu Hegel fortgeschritten, in dessen Lehre diese metaphysisch und monistisch gerichtete Philosophie gipfelte. Was man heute Monismus nennt, hieß damals Identitätsphilosophie. In eben dem Jahre, in welchem Schopenhauer sein Hauptwerk zu Ende führte, wurde Hegel von Heidelberg nach Berlin gerufen, woselbst er eine höchst erfolgreiche Lehrtätigkeit bis zu seinem Tod, den 14. November 1831, entfaltet und die Schule gegründet hat, die während der nächsten Jahrzehnte in dem Gebiete der philosophischen Lehre und Literatur einen tonangebenden und herrschenden Einfluss ausüben sollte.

      Um Schopenhauers philosophische und schriftstellerische Laufbahn von Beginn bis zum Schluss ihrer Werke durch weltgeschichtliche Grenzpunkte zu bezeichnen, so erstreckt sich dieselbe vom Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten französischen Kaiserreichs; dazwischen liegen die Epochen der Restauration, der zweiten und dritten französischen Revolution, welche letztere auch in Deutschland Volksbewegungen und Versuche politischer Umgestaltungen hervorrief. Wir hatten die Mitte des Jahrhunderts erreicht, als die rückläufige Bewegung wieder zur Herrschaft gelangte und jene Neuerungsversuche völlig unterdrückte. Die Reaktion, womit die zweite Hälfte des Jahrhunderts begann, schien bereits die öffentlichen Zustände auf lange Zeit in die alten Geleise zurückgedrängt zu haben, als der Ausbruch und Ausgang des Krimkrieges den Lauf der Dinge oder, wie die heutige Parole lautet, »den Kurs« von Grund auf änderte. Auf die Niederlage Russlands folgte nach einigen Jahren die größere Niederlage Österreichs. König Friedrich Wilhelm IV. starb den 2. Januar 1861. Eine ungeahnte große und gewaltige Zeit hatte mit dem neuen Jahrzehnt begonnen: das Zeitalter Wilhelms I. und die Bismarck’sche Epoche, aus welcher nach drei siegreichen Kriegen das neudeutsche Kaiserreich hervorging, verkündet den 18. Januar 1871 im Schlosse zu Versailles.

      Seit dem Beginn der philosophischen und schriftstellerischen Laufbahn Schopenhauers war ein Menschenalter vergangen, er stand vor dem Abschluss der letzteren, und noch hatte die Welt von ihm und seinen Werken so gut wie gar keine Kenntnis genommen, er war so gut wie völlig unbeachtet geblieben, und das Dunkel, welches ihn einhüllte, schien undurchdringlich. Er hatte die sechzig überschritten, als sein Ruhm endlich zu tagen und bald weithin zu leuchten begann. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens (1850 – 1860) wurde er als der Philosoph des Jahrhunderts gepriesen und seine Lehre als die Philosophie der Zukunft.

      Schon ist mehr als ein Menschenalter seit dem Tod Schopenhauers verflossen, sein Ruhm ist im Wachsen geblieben und sein Name in aller Welt Munde. Dieselben Werke, die vor sechzig Jahren in die Stampfmühle wandern mussten, um »doch einigen Nutzen zu bringen«, erscheinen heute in Volksausgaben und paradieren an den Schaufenstern der Buchläden. Man weiß ja, dass Bücher ihre Schicksale haben; schwerlich haben philosophische je ein ähnliches gehabt. Es handelte sich um Werke, die keineswegs von innen dunkel waren, vielmehr durch ihren Reichtum an erleuchtenden und neuen Ideen, durch ihre stilistische und künstlerische Vollkommenheit die volle Beachtung aller Literaturkenner und Literaturfreunde sogleich verdient hätten.

      Wie erklärt sich deren so andauernde und hartnäckige Nichtbeachtung? Sagen wir gleich, so kurz und gut es sich am Anfang sagen lässt, wie sich die Sache nicht erklärt. Freilich ist diese nichtige Erklärung im Munde des Philosophen selbst immer die geläufigste und beliebteste gewesen: die deutschen Philosophieprofessoren sollen sich aus allen Beweggründen des Neides verschworen haben, seine Schriften ungelesen, jedenfalls unerwähnt zu lassen.

      Die Professoren sind nicht der Zeitgeist. Wenn ein Denker und Schriftsteller, wie Schopenhauer, ein langes Menschenalter hindurch keine Wirkung auf die Welt hervorbringt, so sind seine Schriften nicht von einigen Professoren, sondern vom Zeitgeist unbeachtet geblieben, worunter wir kein mystisches Ding, sondern den Inbegriff derjenigen Interessen und Fragen verstehen, welche in einem gegebenen Zeitabschnitte herrschen. Nun vergegenwärtige man sich unser Deutschland von den Freiheitskriegen bis in die Volksbewegungen des Jahres 1848, die Interessen nationaler, religiöser, kirchlicher, politischer, historischer Art, die es erfüllt und tief bewegt haben; man vergleiche damit Schopenhauers Lehre und seine sämtlichen Werke, um zu sehen, was sie zur Weckung, Klärung, Lösung dieser Fragen beigetragen oder geleistet haben. So gut wie nichts! Alle jene Zeitfragen, in welches Gebiet und in welche Richtung sie auch fallen, sind von eminent historischem und kritischem Charakter gewesen; sie gehören in das große Thema der Weltgeschichte, dem Schopenhauer, der Mann wie die Lehre, sich von Grund auf abgewendet zeigt, denn in seinen Augen hat die Weltgeschichte überhaupt kein Thema.

      Der Zeitgeist herrscht und gleicht auch darin einem Herrscher, dass er, wie die Könige, denen Gehör erteilt, die ihm etwas zu sagen haben; aber sie müssen warten, bis sie gerufen werden und die Stunde ihrer Audienz da ist. Wenn der Glaube an die Weltgeschichte als den »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, dieses Grunddogma der Hegel’schen Lehre, erschüttert wird und zu wanken beginnt, eine natürliche Folge großer vereitelter Hoffnungen, dann hat die Stunde für Schopenhauer geschlagen. Er wird die Lehre von dem Thema und Endzweck der Weltgeschichte für eine Täuschung erklären und dieselbe gründlicher als je ein Sterblicher vor ihm der Welt auszureden suchen. Die Zeit ist gekommen, wo man seinen Worten lauscht. Wenn man ihn zu Ende gehört hat, so ist es sehr fraglich, ob man ihm Recht gibt, aber sicher ist, dass man ihn nie wieder vergisst.

      1. Die Vorfahren

      Die Voreltern Schopenhauers waren nach Danzig eingewanderte Holländer, wie die Kants eingewanderte Schotten. Während das ostpreußische Ordensland erst ein weltliches von Polen abhängiges, dann unter dem großen Kurfürsten ein souveränes preußisches Herzogtum geworden, mit den brandenburgischen Landen vereinigt, zum preußischen Staat, unter seinem Nachfolger zum Königreich Preußen herangewachsen war, blieb das westpreußische seit dem Thorner Frieden (1466) in der Abhängigkeit von Polen. Infolge der ersten Teilung des polnischen Reiches (1772) wurde Westpreußen mit Ausnahme von Danzig und Thorn eine preußische Provinz; infolge der zweiten Teilung (1793) wurde auch Danzig eine preußische Stadt, die den 3. April von preußischen Soldaten besetzt wurde und den 7. Mai dem König huldigte.

      Johann Schopenhauer, der Urgroßvater des Philosophen, war am Anfang des 18. Jahrhunderts aus Holland nach Danzig gekommen, wo er sich als Kaufmann niedergelassen und die städtische Domäne Stutthof, fünf Meilen von der Stadt entfernt, gepachtet hatte. (Hier hatten im März 1716 Peter der Große und seine Gemahlin als Gast Schopenhauers einige Tage gewohnt.) Sein Sohn Andreas war Danziger Bürger geworden (1745) und ländlicher Gutsbesitzer in dem eine Viertelmeile von der Stadt gelegenen Dorfe Ohra. Aus seiner Ehe mit A. R. Soermans, der Tochter des niederländischen Ministerresidenten, sind vier Söhne hervorgegangen, deren ältester Heinrich Floris war, der Vater des Philosophen. Die weiteren Familiennachrichten lauten recht unheimlich: die Mutter des Heinrich Floris wurde gerichtlich für geisteskrank erklärt und entmündigt; einer seiner Brüder sei von Geburt blödsinnig gewesen, ein zweiter es durch Ausschweifungen geworden, und er selbst habe zuletzt an so schweren Gedächtnisstörungen gelitten, dass sein plötzlicher Tod wahrscheinlich eine Tat des verdunkelten Geistes war.