Kuno Fischer

Schopenhauer


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Mensch? zurückbezogen wird. In ihrer Tendenz zu Spezialisierung und Differenzierung steht die Universitätsphilosophie immer in der Gefahr, sich von ihrem Quellpunkt abzuschneiden. Das ungebrochene Interesse an Werken wie Schopenhauers »Aphorismen zur Lebensweisheit« ist so gesehen ein vorwurfsvoller Hinweis darauf, dass die Universitätsphilosophie auf Fragen von einiger Bedeutung keine Antworten hat. Auf dem Weg von der Liebe zur Weisheit zur Wissenschaft esoterisch geworden, hat sie den Anspruch, »Führerin des Lebens«80 zu sein, aufgegeben und überlässt das unbestellte Feld dem philosophischen Dilettantismus, in Form der psychologischen Beratung, der Lebenshilfeliteratur etc.

      Den Anweisungen entsprechend, die Schopenhauer mehrfach zum Studium seiner Philosophie und zur Lektüre seiner Werke gegeben hat, beginnt Fischer seine Einführung in Schopenhauers Lehre mit der Darstellung seiner Dissertation. Die 1813 erschienene Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« hat den Charakter einer Propädeutik, insoferne sie in der Unterscheidung von Kausalgrund, Erkenntnisgrund, Seinsgrund und Grund des Handelns (Motivation) Anlage und Differenzierungen seines Hauptwerkes enthält. »Die Welt als Wille und Vorstellung« teilt sich in vier Bücher, die Schopenhauers Grundgedanken: »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens« explizieren. Das erste Buch enthält Schopenhauers Erkenntnistheorie und lässt bereits mit dem ersten Satz den Anschluss an Kants transzendentalen Idealismus erkennen: »Die Welt ist meine Vorstellung«. Das zweite Buch enthält Schopenhauers Metaphysik: die Lehre vom Willen, der sich in der gesamten Natur objektiviert, mit dem dritten Buch wird das Problemgebiet der Ästhetik betreten, das vierte Buch enthält Schopenhauers Ethik und Religionsphilosophie.

      Schon im Kant-Band seiner Geschichte hat Fischer Schopenhauers Verdienst um die kantische Philosophie hervorgehoben, das darin besteht, »auf die erste Ausgabe der Vernunftkritik, als die wahre Grundlage der Lehre Kant´s, hingewiesen [zu] haben«82. Nur im Ausgang von der transzendentalen Ästhetik, der Lehre von Raum und Zeit, ist ein angemessenes Verständnis der kritischen Philosophie möglich: »Hier ist die Entdeckung, worauf das ganze kritische Lehrgebäude ruht, der Schwerpunkt, wonach die übrigen Begriffe sich richten.«83 Ein Verfehlen dieser Interpretationsrichtung bringt die kritische Philosophie »in Widerstreit mit sich selbst«84, wie das in der zweiten Auflage der Vernunftkritik der Fall ist. Diese Art des Rückgriffs auf Kant ist nicht unproblematisch, eine Interpretation Kants, welche die transzendentale Ästhetik ins Zentrum stellt, schließt an die »Kritik der reinen Vernunft« an einer Stelle an, an der dieses revolutionäre Werk vorkritische Züge trägt und begreift damit Transzendentalphilosophie von einem Lehrstück aus, das Kant in der zweiten Auflage zu korrigieren bemüht gewesen ist. Schopenhauers Anschluss an Kant ist zudem durch die Zurücknahme einer Reihe kantischer Differenzierungen gekennzeichnet.85 Dazu kommt, dass noch in einem weiteren wesentlichen Punkt Schopenhauer kein Schüler Kants gewesen ist.86 Kant hat Philosophie als Wissenschaft konzipiert und ist demgemäß bestrebt gewesen, der Metaphysik ein methodisches Fundament zu geben, das es ihr ermöglicht, als Wissenschaft aufzutreten87. Auch für die an Kant anschließenden Vertreter des Deutschen Idealismus sind Logik und Metaphysik – so auch für Fischer – stets Wissenschaftslehre. Im Gegensatz dazu ist für Schopenhauer Philosophie nicht primär Wissenschaft, sondern Kunst – eine Sache des Genies: das Genie, der vom Genius geleitete Selbstdenker, »der hat die Boussole, den rechten Weg zu finden«88 – methodische Überlegungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Wird man im Rahmen der Erkenntnistheorie Schopenhauer den exklusiven Anspruch, der einzig echte Thronerbe Kants zu sein, bestreiten müssen, die Einsicht in die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Kant, ja eines Ausgangs von Kant als unverzichtbare Grundlage allen Philosophierens, wird man ihm nicht absprechen können. Der Fortschritt der Philosophie seit Kant war weder gestern noch ist er heute ein Einwand gegen eine solche »Rückkehr zu Kant«, soferne all die Schritte, welche die Philosophie über Kant hinaus getan hat, es nicht rechtfertigen, dass wir auch nur einen einzigen hinter ihn zurück tun, – und heißt nicht schon Kant verstehen, über ihn hinausgehen?89

      Schopenhauer überschreitet die Erkenntnisgrenzen, die bei Kant durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich der Metaphysik gesetzt sind, indem er das Ding an sich als Wille bestimmt. Damit ist nicht nur eines der zentralen Probleme der Kantinterpretation, in der Art des gordischen Knotens gelöst, indem Schopenhauer die Leiblichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Willensmetaphysik macht, umgeht er auch »die gefährlichste Klippe des Kantianismus«90 im Sinne einer »reflexionslogischen« Verfehlung der Leibproblematik. Der Leib, das »unmittelbare Objekt«, ist uns auf eine doppelte Weise gegeben: in einer Außenperspektive als Objekt der Vorstellung, d. h. als sinnliche Erscheinung in Raum und Zeit, und in einer Innenperspektive als Wille zum Leben. In Analogie zu dieser Leiberfahrung wird der Wille zum einheitlichen Erklärungsprinzip alles Wirklichen, die Erscheinungswelt insgesamt muss ihrem Wesen nach als Wille begriffen werden, als Wille zum Leben, der sich in der Natur unmittelbar manifestiert und im Menschen Bewusstsein und Einsicht gewinnt.

      Schopenhauers Willensmetaphysik weist auf mehreren Traditionslinien ins 20. Jahrhundert. Indem er den Willen vom Gedanken einer die Natur insgesamt bestimmenden natürlichen Selbstbehauptung her fasst, nimmt Schopenhauer nicht nur unabhängig von Darwin wesentliche Bestimmungen des Darwinismus vorweg, sondern auch Gedanken, die sich zum Teil in der neuzeitlichen Anthropologie wiederfinden – der »exstatische Gefühlsdrang« bei Max Scheler91, oder der Begriff Kultur als ins Zweckdienliche umgearbeitete Natur bei Arnold Gehlen92. Seine Erkenntnis der Rolle des Unbewussten weist über Nietzsche und Eduard von Hartmann93 auf die Freudsche Psychoanalyse. Freud erwähnt Schopenhauer nicht nur an mehreren Stellen seiner Traumdeutung – das Verhältnis von Traum und Wahnsinn94, das Verhältnis von Traum und Charakter95, oder die Frage der Entstehung des Traumes96 betreffend –, er hebt auch mehrfach die »weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers« hervor und gesteht ihm zu, »nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt«97 zu haben. Auch im Zusammenhang mit der dritten (psychologischen) Kränkung der Eigenliebe, die sich mit der Einsicht verbindet, dass angesichts letztlich nicht zu bändigender sexueller Triebregungen »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«, ist es »der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist,«98 auf den Freud hinweist. Vor allem aber ist es die Abwehr von Missverständnissen und nicht gerechtfertigten Vorwürfen, die in Schlagworten wie »Pansexualismus« der Psychoanalyse vorwerfen, alles aus der Sexualität zu erklären, die Freud in Schopenhauer den Verbündeten suchen lässt, der »bereits vor geraumer Zeit den Menschen vorgehalten [hat,] in welchem Maß ihr Tun und Trachten durch sexuelle Strebungen – im gewohnten Sinne des Wortes – bestimmt wird«99. Solcherart beruft sich Freud mehrfach auf Schopenhauer, ohne freilich in ihm einen Vorläufer der eigenen Position sehen zu wollen.100

      Aus Schopenhauers metaphysischer Weltkonzeption sind auch die Prinzipien seiner Ethik abgeleitet. Sittliche Gestalten101 gelten ihm bloß als begriffliche Abstraktionen, an ihre Stelle treten das Mitleid als die eine Tugend und der Egoismus als das eine Laster. In dieser »grandiosen Vereinfachung« der sittlichen Probleme zeigt sich Schopenhauer auch im Rahmen der praktischen Philosophie als Widerpart der Philosophie des Deutschen Idealismus.102 Die Konzeption einer Ethik, die sich über den Menschen hinaus auf das Lebendige, d. h. auch auf das Tier bezieht, weist ebenfalls weit ins 20. Jahrhundert. So finden wir Schopenhauer im Rahmen jener Positionen, denen das Mitleid als Grundlage der Ausweitung des Humanitätsgedankens auf das Tier resp. der Einbeziehung des Tieres in die sittliche Gemeinschaft das fundamentale ethische Prinzip ist, als vielzitierten Klassiker der Tierethik, wobei die näheren Differenzierungen seines Mitleidsbegriffs und die metaphysischen Voraussetzungen desselben nicht selten außer Acht bleiben. Schon Albert Schweitzer, dessen Auseinandersetzung mit Schopenhauers Ethik tiefgreifend und nicht zuletzt ihrer kritischen Einwände wegen beachtenswert ist, nimmt einen genuin schopenhauerschen Gedanken zum Ausgangspunkt seiner »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben«: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«103 Im Ausgeliefertsein an den blinden und unaufhaltsamen Drang des Willens, den, im Kampf gegen Hemmungen und im Konflikt mit anderen, von Ziel zu Ziel vorwärtsgetrieben, jede Befriedigung rastlos und enttäuscht