Edgar Wallace

Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band


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die Schulden zu begleichen, die durch die Amtsführung des Verstorbenen als Leiter einer öffentlichen Gesellschaft entstanden sind. Das heißt, es ist eine Frage der Rechtsprechung, ob das Privatvermögen des verstorbenen Mr. Farrington ganz oder teilweise beschlagnahmt werden wird, um die Gläubiger zu befriedigen.«

      Als er geendet hatte, setzten sofort lebhafte Diskussionen ein. Poltavo ging mit schnellen Schritten zu dem Rechtsanwalt, und die beiden sprachen ein paar Augenblicke miteinander. Dann wandte sich Graf Poltavo plötzlich um und verließ das Zimmer. Der Detektiv hatte den Vorgang beobachtet und war ihm gefolgt. Er holte ihn in der Halle ein.

      »Kann ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Graf?« fragte er. Sie gingen zusammen die Treppe hinunter und traten auf die Straße. »Sie sind durch das Testament sehr überrascht worden?«

      Graf Poltavo hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt. Wenn man jetzt sein lächelndes Gesicht sah und seine ruhigen Worte hörte, hätte man nicht annehmen können, daß ihn die Verlesung des Testamentes irgendwie beeindruckt hätte.

      »In gewisser Weise bin ich erstaunt, das muß ich zugeben. Ich verstehe nicht ganz, warum mein Freund Farrington Bestimmungen getroffen hat, die –« Er zögerte.

      »Sie meinen: die die Zukunft Miss Grays betreffen?« vollendete Mr. Smith den Satz.

      Plötzlich verlor Poltavo seine Selbstbeherrschung wieder und schrie Mr. Smith förmlich an, obwohl sein Zorn sich nicht gegen diesen Beamten richtete.

      »Dieser gemeine Hund«, rief er wütend, »mir so etwas anzutun! Aber das kann nicht sein, und das darf nicht sein – ich sage es Ihnen! Diese Frau bedeutet mehr für mich, als Sie sich denken können! Kann ich einmal privat mit Ihnen reden?«

      »Ich dachte mir, daß Sie diesen Wunsch vielleicht hätten.«

      Mr. Smith hob die Hand und gab ein kaum wahrnehmbares Zeichen. Ein Auto, das ihnen auf der anderen Seite der Straße langsam gefolgt war, fuhr plötzlich quer über die Straße und hielt neben dem Gehsteig.

      Mr. Smith öffnete die Tür, und Graf Poltavo stieg ein. Der Detektiv folgte ihm, ohne dem Chauffeur weitere Anweisungen zu geben. Der Wagen fuhr durch West End, bis er schließlich vor Scotland Yard hielt.

      Als sie in das Büro von Mr. Smith eintraten, hatte Poltavo seine Fassung wiedergewonnen. Er ging in dem Zimmer auf und ab, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf gesenkt.

      »Nun, was wollten Sie mir sagen?« begann Mr. Smith, der an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

      »Ich hätte Ihnen sehr viel zu sagen«, erwiderte Poltavo ruhig. »Und ich überlege gerade, was mehr in meinem Interesse liegt: jetzt zu sprechen oder noch länger zu schweigen.«

      »Ihr Schweigen würde sich wohl auf die Tatsachen beziehen, die Sie über Mr. Farrington wissen?« fragte Mr. Smith leichthin. »Vielleicht kann ich Ihnen bei dieser schweren Arbeit ein wenig helfen.«

      »Ich glaube nicht. Sie können unmöglich so viel über diesen Mann wissen wie ich. Ich beabsichtigte ursprünglich«, sagte er dann frei heraus, »Ihnen viel mitzuteilen, was Sie sehr in Erstaunen gesetzt hätte. Aber ich halte es für ratsam, noch einen oder zwei Tage zu warten, um einigen Leuten, die an dieser Sache interessiert sind, die Möglichkeit zu geben, ihr Unrecht wiedergutzumachen. Ich muß sofort nach Paris fahren.«

      Mr. Smith entgegnete nichts. Es hatte keinen Zweck, jetzt auf eine Mitteilung zu drängen. Er war fest überzeugt, daß Poltavo noch sprechen würde, wenn er auch im Augenblick seine Selbstbeherrschung wiedererlangt hatte. Mr. Smith konnte warten und begnügte sich damit, seinen unerwarteten Gast zu unterhalten.

      »Ein sonderbarer Platz«, meinte der Graf, als er sich in dem Zimmer umsah. »Dies ist also Scotland Yard! Das Polizeipräsidium, vor dem sich alle Verbrecher fürchten, das selbst die Verbrecherwelt Polens kennt.«

      »Ja, es ist wirklich ein eigenartiger Ort. Soll ich Sie einmal zu der interessantesten Stelle führen?«

      »Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

      Mr. Smith führte ihn den Gang entlang, klingelte nach dem Fahrstuhl und fuhr mit Poltavo in den dritten Stock. Dort befand sich am Ende eines langen Korridors ein großer Saal, in dem Aktenschrank neben Aktenschrank stand.

      »Das ist unsere Registratur«, erklärte der Detektiv. »Sie ist besonders für Sie von großem Interesse, Graf.«

      »Warum gerade für mich?« fragte Poltavo lächelnd.

      »Weil ich annehme, daß Sie sich für die Entdeckung von Verbrechern interessieren«, erwiderte Mr. Smith gleichgültig.

      Er ging scheinbar ziellos eine lange Reihe von Schränken entlang, aber plötzlich blieb er stehen.

      »Hier finden Sie zum Beispiel die Akten eines merkwürdigen Mannes.« Er zog, ohne lange zu suchen, eine Schublade auf, ließ seine Finger über einen großen Stoß von Mappen gleiten und nahm eine davon heraus. Dann winkte er den Grafen zu sich an einen polierten Tisch, der in der Nähe des Fensters stand, und zog zwei Stühle heran. »Nehmen Sie doch, bitte, Platz. Ich werde Sie mit einem der kleineren Verbrecher bekannt machen.«

      Graf Poltavo beugte sich interessiert vor, als Mr. Smith die Mappe öffnete, zwei Aktenstücke herausnahm und sie auf den Tisch legte.

      Er schlug das erste auf: die Fotografie eines militärisch aussehenden Mannes in russischer Uniform lag obenauf. Poltavo sah sie und blickte auf. Sein Gesicht zuckte.

      »Das war der Militärgouverneur von Polen«, sagte Mr. Smith leichthin. »Er wurde vor Jahren von einem Mann ermordet, der sich als sein Sohn ausgab.«

      Der Graf hatte sich erhoben, er zitterte am ganzen Körper.

      »Ich habe ihn niemals gesehen«, stammelte er. »Es ist sehr schwül – Sie haben keine Ventilation hier.«

      »Warten Sie ein wenig.« Der Detektiv nahm das zweite Aktenstück, zog die Fotografie eines schmucken jungen Mannes heraus und legte sie neben die andere.

      »Kennen Sie diesen Herrn?«

      Er erhielt keine Antwort.

      »Es ist das Bild des Mörders. Unglücklicherweise war dies nicht sein einziges Verbrechen. Sie werden bemerken, daß zwei verschiedene Aktenstücke hier liegen, die die Fortschritte unseres jungen Freundes auf dem Weg zum Galgen zeigen.«

      Er suchte eine dritte Fotografie heraus, die ein hübsches Mädchen in russischer Bauerntracht zeigte. Die Aufnahme war offensichtlich auf einem Kostümball gemacht worden, denn das feine Gesicht und die zarte Gestalt paßten wenig zu dem Kleid.

      »Das ist Prinzessin Lydia Bontasky – ein Opfer seines Verrats. Hier noch ein anderes.«

      Das vierte Bild zeigte ein trauriges, von Sorgen bedrücktes Gesicht.

      »Diese Frau wurde von unserem hochgemuten jungen Freund angeschossen und starb an ihren Verletzungen. – Hier sind Einzelheiten über einen Bankraub, der vor fünf Jahren von Leuten organisiert wurde, die sich Anarchisten nannten, in Wirklichkeit aber ganz gewöhnliche Verbrecher waren, die keine Achtung vor dem Menschenleben hatten. Aber ich sehe, das interessiert Sie alles nicht.«

      Er schloß das Aktenstück und legte es in die Mappe zurück, bevor er den Grafen anschaute, dessen Gesicht totenbleich war.

      »Es ist sehr interessant«, stotterte Poltavo.

      Er schwankte durch das Zimmer und hatte sich noch nicht erholt, als sie den Gang wieder betraten.

      »Hier ist der Ausgang«, sagte Mr. Smith und zeigte auf die breiten Stufen. »Ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein, Graf Poltavo. Es wird meine Pflicht sein, Ihre eigene Polizei davon zu unterrichten, daß Sie augenblicklich in diesem Lande weilen. Ob sie etwas unternimmt oder nicht, ist eine zweifelhafte Angelegenheit. Ihre Landsleute sind ja nicht besonders energisch, wenn es sich um Verbrechen handelt, die fünf Jahre zurückliegen. Aber ich warne Sie.« Er ließ seine Hand schwer auf die Schulter des anderen fallen. »Wenn