Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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die Interessen der Nation oder die des übernationalen Geistes. Die »Wölfe« sind eine Variation der Frage: sie heißt hier »das Vaterland oder die Gerechtigkeit«.

      Schon im »Danton« ist das Problem angeschlagen. Robespierre beschließt mit den Seinen die Hinrichtung Dantons und fordert, daß er sofort verhaftet und verurteilt werde. St. Just, leidenschaftlichster Feind Dantons, widerstrebt nicht der Anklage, er fordert nur, daß sie im Rahmen des Gesetzes erfolge. Nun weiß Robespierre, daß ein Zögern den Sieg Dantons bedeute, er verlangt den Bruch des Gesetzes: ihm ist das Vaterland mehr als das Gesetz. »Vaincre à tout prix!«, »Siegen um jeden Preis!« ruft der eine; der andere: »Es ist gleichgültig, ob ein einzelner Mensch rechtlich verurteilt wird, wenn nur das Vaterland gerettet ist«; und St. Just beugt sich diesem Argument, er opfert die Ehre der Notwendigkeit, das Gesetz dem Vaterland.

      In den »Wölfen« ist nun die Kehrseite der Tragödie gestaltet: ein Mensch, der lieber sich opfert als das Gesetz, der des gleichen Glaubens ist wie Faber in »Triomphe de la Raison«, »daß eine einzige Ungerechtigkeit die ganze Welt ungerecht mache«, ein Mensch, dem es wie Hugot, dem andern Helden des »Triomphe de la Raison«, gleichgültig scheint, »ob die Gerechtigkeit siegt oder besiegt wird, der nur nicht duldet, daß sie resigniert«. Teulier, der Gelehrte, weiß, daß sein Feind d’Oyron zu Unrecht des Verrates beschuldigt ist: er verteidigt ihn, obwohl er sich bewußt ist, daß er ihn nicht retten kann und nur sich selbst zerstört, gegen den patriotischen Furor der Revolutionssoldateska, dem einzig der Sieg ein Argument ist. »Fiat justitia, pereat mundus«, den alten Wahrspruch nimmt er mit aller Gefahr auf sich, er verleugnet lieber das Leben, als den Geist. »Jede Seele, die einmal die Wahrheit gesehen und sie zu leugnen versucht, mordet sich selbst.« Aber die andern sind stärker, der Erfolg der Waffen ist mit ihnen. »Möge mein Name beschmutzt sein, wenn nur das Vaterland gerettet ist«, antwortet ihm Quesnel. Der Patriotismus, der Massenglaube triumphiert über den Heroismus des Gewissens, den Glauben an die unsichtbare Gerechtigkeit.

      Diese Tragödie eines zeitlosen Konfliktes, der in Zeiten des Krieges und der Vaterlandsgefahr jeden einzelnen Menschen in seiner doppelten Eigenschaft als freies moralisches Wesen und gehorsamen Staatsbürger fast notwendig befällt, war mitten aus einem zeitlichen Erlebnis geschrieben. In den »Wölfen« hatte Rolland die Dreyfus-Affäre meisterhaft transponiert, in der jedem die Frage auferlegt war, was ihm wichtiger sei, die Gerechtigkeit oder die nationale Sache. Dreyfus der Jude ist in der Revolutionstragödie Aristokrat, Mitglied einer beargwöhnten, gehaßten sozialen Schicht; Teulier, der den Kampf für ihn führt, Piquart, seine Feinde der französische Generalstab, der lieber die einmal begangene Ungerechtigkeit verewigen, als den Ruhm und das Vertrauen der Armee beschmutzen lassen will. In ein enges, aber prachtvoll bildkräftiges Symbol war mit dieser militärischen Tragödie das ganze Geschehnis zusammengedrängt, das Frankreich vom Präsidentenzimmer bis in die letzte Arbeiterwohnung erregte, und der Abend der Aufführung des Stückes im Theater de l’Oeuvre am 18. Mai wurde unaufhaltsam eine politische Demonstration. Zola, Scheurer-Kestner, Peguy, Piquart, die Verteidiger des Unschuldigen, die Hauptakteure des weltberühmten Prozesses waren für zwei Stunden Zuschauer der dramatischen Symbolisierung ihres eigenen Werkes. Ganz aus der Hitze der Politik hatte Rolland – der unter dem Namen St. Just das Schauspiel veröffentlichte – den geistigen Gehalt, die moralische Essenz jenes Prozesses gewonnen, der tatsächlich im höheren Sinn ein Reinigungsprozeß der ganzen französischen Nation geworden war. Zum erstenmal war er aus der Geschichte in die Aktualität getreten, aber nur um – wie immer seitdem – das Ewige aus dem Zeitlichen zu retten, die Freiheit der Gesinnung gegen die Psychose der Masse zu verteidigen, Anwalt jenes Heroismus, der keine andere Instanz anerkennt, weder Vaterland noch Sieg, weder Erfolg noch Gefahr: immer nur die eine, die höchste, sein Gewissen.

      Der vergebliche Ruf

       Inhaltsverzeichnis

      Vergebens war der Ruf nach dem Volke geblieben. Vergebens das Werk. Keines der Dramen erkämpft sich mehr als einige Abende, die meisten sind schon am nächsten Morgen begraben von der Feindseligkeit der Kritik, der Gleichgültigkeit der Menge. Vergebens auch der Kampf der Freunde um das »Théatre du peuple«. Das Ministerium, an das sie verhängnisvollerweise zur Schaffung einer Pariser Volksbühne appelliert haben, läßt die leidenschaftliche Bemühung verknöchern, Herr Adrin Bernheim wird auf eine Informationsreise nach Berlin gesandt, er referiert, man referiert weiter, man berät, man deliberiert, schließlich erstickt der schöne Versuch irgendwo in den Akten. Auf den Boulevards triumphieren weiter Rostand und Bernstein, das Volk drängt in die Kinos, der große Aufruf zum Idealismus verhallt ungehört.

      Wem nun das gewaltige Werk vollenden, welcher Nation, wenn die eigene schweigt? Das »Théatre de la Revolution« bleibt Torso. Ein »Robespierre«, das geistige Gegenstück zum »Danton«, in breiten Zügen schon gestaltet, formt sich nicht zu Ende, die andern Segmente des großen Schaffenskreises sinken in sich zusammen. Stöße von Studien, Notizen, verstreute Blätter, beschriebene Hefte, papierner Schutt sind die Trümmer eines Baues, der das französische Volk in einem Pantheon des Geistes zu heroischer Erhebung versammeln, ein wahrhaft französisches Theater schaffen wollte. Rolland mag in solcher Stunde gefühlt haben wie Goethe, da er in wehmütiger Rückerinnerung seiner dramatischen Träume zu Eckermann sagt: »Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden, ja, ich hatte den Wahn, als könne ich selbst dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundstücke legen… Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich ein ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen.«

      Der Ruf ist verklungen. »Es regte sich nicht und rührte sich nicht und alles blieb wie zuvor.« Aber auch Rolland bleibt derselbe, der ewige Beginner von Werk zu Werk, über das Hingesunkene ohne Klage aufsteigend, neuerem und höherem Ziel entgegen, um im Sinne von Rilkes schönem Wort »der Besiegte von immer Größerem zu sein«.

      Die Zeit wird kommen

       Inhaltsverzeichnis

       1902

      Nur einmal noch verlockt (ein wenig geglücktes Werk dieser Jahre »La Montespan« fügt sich nicht in die Reihe seiner großen Bemühung) die Zeit Romain Rolland zu dramatischer Auseinandersetzung. Noch einmal wie im Dreyfusprozeß sucht er politischem Geschehnis die moralische Essenz zu entpressen, ein Erlebnis der Zeit in einen Konflikt des Gewissens zu erheben. Der Burenkrieg ist nur sein Vorwand, wie die Revolution für seine Dramen nur ein seelischer Schauplatz war: in Wahrheit spielt diese Tragödie vor ewiger Instanz, der einzigen, die Rolland anerkennt, dem Gewissen. Dem Gewissen des Einzelnen und der Welt.

      »Le temps viendra« ist die dritte, die eindringlichste Variation des früh schon angeschlagenen Zwiespalts von Überzeugung und Pflicht, Staatsbürgertum und Menschlichkeit, des nationalen und des freien Menschen. Ein Kriegsdrama des Gewissens im Kriege der andern. Im »Triomphe de la Raison« hieß die Frage, »die Freiheit oder das Vaterland«, in »Les Loups« »die Gerechtigkeit oder das Vaterland«. Hier ist sie nun im höchsten Sinne gestellt, »das Gewissen, die ewige Wahrheit oder das Vaterland«. Die Hauptgestalt (nicht der Held) ist Clifford, der Führer der Invasionsarmee. Er führt Krieg, einen ungerechten Krieg (welcher Krieg ist gerecht?), aber er führt ihn mit seinem strategischen Wissen, nicht mit seinem Herzen. Wem bewußt wurde, »wieviel Abgelebtes schon im Kriege ist«, der weiß, daß man Krieg nicht wahrhaft führen kann ohne Haß, und ist schon zu reif, um hassen zu können. Er weiß, man kann nicht kämpfen ohne Lüge, nicht töten ohne die Menschlichkeit zu verletzen, kein militärisches Recht schaffen, wo das Ziel ein Unrecht ist. Ein eherner Kreis des Widerspruchs kettet ihn ein. »Obéir à ma patrie? Obéir à ma conscience?« – »Soll