Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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ich allein bin, macht, daß ich glaube, Du hättest mich gehört… so verlasse ich mich oft Dir gegenüber auf ein Wort und halte tausend zurück, die sich alsbald in Seufzer und Tränen verwandeln. Ja, oft weine ich das, was ich Dir nicht sage. Es ist nicht immer aus Trauer, mein Geliebter; die Liebe ist ja so reich an Gemütsbewegungen! Nimm alles von der Quelle, die Dein eigen ist; und wenn Du mir in Deiner Wahrhaftigkeit, an die ich glaube wie an Gott, sagst, daß Du Dein Leben von neuem mit mir wieder beginnen wolltest, so antworte ich Dir vor Gott, daß dies auch mein innigster Gedanke ist.

      Alltag und Elend

       Inhaltsverzeichnis

       Die unaufhörliche Heimsuchung, der mit hinreißender Kraft des Herzens ertragene Jammer ihres Lebens wird aus den folgenden Briefen offenbar. Sie zeigen die Verzweiflung der ewig vom Schicksal Gehetzten und gleichzeitig das Wunderbare, wie inmitten ihres eigenen Leidens Marceline Desbordes-Valmore allem fremden Leiden hilfreich zur Seite stand. Es wäre leicht gewesen, solche Beispiele sowohl ihrer Not als ihrer Nothilfe noch zu vermehren, doch schildert sich in diesen wohl schon sichtbar die groß erduldete und zu reinster Humanität erhobene Tragik ihres heroischen Daseins.

       An ihren Bruder

       5. September 1816.

      Ich müßte Dich täuschen, mein teurer Freund, wenn ich Dir sagte, daß dieses arme gebrochene Herz imstande sei, sich wieder an diese, nun für mich so traurige Welt zu binden. Nein nichts, nichts wird diese Leere ausfüllen, für die es gar keinen Ausdruck gibt, so groß ist die Niedergeschlagenheit, die sie mir bereitet. Nur dünkt mir, als ob meine Vernunft nicht mehr in Gefahr sei, sich gänzlich zu verwirren, wie man und ich selbst es fürchtete. Das Leben erscheint mir jetzt so lang, war es doch so grausam für mich!… Nein, ich kann in Worten nicht wiedergeben, was mich schmerzt oder vielmehr den einzigen Schmerz, der Tag und Nacht auf meiner Brust und meinem zerrissenen Herzen lastet…

      Papa befindet sich wohler… Wie wahr ist es doch, daß ich nur für ihn mich entschließen konnte, weiter beim Theater zu bleiben! Es ist das größte Opfer, das ich um der Vernunft willen jemals gebracht habe.

       2. Jänner (lies 1817).

      Ist es zu spät, mein teurer Felix, Dich mit aller Zärtlichkeit einer Schwester, einer Freundin zu umarmen? Alle Tage, alle Monate sind gleich für diejenigen, die einander lieben, und Du weißt, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe. Gedulde Dich noch wegen meines Porträts, mein Freund, Du wirst es nunmehr bald besitzen. Wenn das Bildnis einer Schwester, eines unglücklichen Wesens, Deine Freundschaft befriedigen kann, wirst Du zufrieden sein. Dein Brief hat mich entzückt, Du scheinst über Dein Schicksal unbesorgt, und dies beruhigt ein wenig mein trauriges Herz, und ich hätte Dich dafür umarmen mögen, daß Du mir ein Gefühl vermittelt hast, das der Freude gleicht. Wenn das Gebet einer Seele, die nichts mehr für sich selbst zu verlangen hat, von Gott erhört wird, werden alle meine Verwandten, die ich mit so viel Innigkeit liebe, von den schmerzlichen und tiefen Leiden, die ich empfinde, frei sein. Es scheint mir, mein lieber Bruder, daß ich genug für mehrere leide… Welch ein Jahr ist eben für Deine arme Marceline hingegangen! – Und das, was es mir geraubt hat, wird mir niemals wiedergegeben sein, nein, niemals in dieser Welt. Ich muß das Ende einer für mich recht langen Reise abwarten! Mein armer Sohn, mein liebreizendes Kind hat mir allen Kummer leichter gemacht. Kein Kind hat es mehr verdient, von seiner unglücklichen Mutter zu jeder Stunde beweint zu werden. Erinnerst Du Dich seiner? Wie schön war er doch! Wie gut!

      An Duthilloeul

      Zuerst Friedensrichter, dann Bibliothekar der Stadt Douai, hat sich, sovielmal er konnte, der unglücklichen Lage des Felix Desbordes angenommen.

       Bordeaux, den 24. Mai 1826.

      Sie kennen jetzt einen meiner tiefsten Schmerzen. Das Los meines Bruders ist seit fünfzehn Jahren eine geheime und unheilbare Wunde für mich. Alle meine Anstrengungen, alle meine Tränen haben die verderblichen Folgen seines entscheidenden Schrittes ins Leben nicht abwenden können. Er hat sich mit vierzehn Jahren, um seinen bedürftigen Vater zu unterstützen, anwerben lassen und hat seine ganze Jugend im Kriege und in der Gefangenschaft auf den schottischen Pontons verbracht, und alle diese Dinge haben seine geistige und leibliche Gesundheit erschüttert. Wenngleich er mir einer der liebsten Menschen auf Erden ist, nicht nur weil ich ihn als Kind geliebt habe, sondern weil er gut und unglücklich ist, so wage ich doch nur mit Zagen, ihn dem Erbarmen braver Leute zu empfehlen. Er ist von langem Leiden geschwächt und unbeständig, die Erinnerung an so viel verlorene Hoffnungen, an die Demütigungen, denen er unterworfen gewesen, ergreifen ihn zuweilen mit solcher Heftigkeit, daß er in Verzweiflung erstickt und ziellos und schutzlos umherirrt. Monate lang weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist, schreibe überallhin, verzehre mich in Unruhe, und schließlich erhalte ich einen Brief von ihm, in welchem er mich als seine einzige Freundin um Hilfe angeht. Das bin ich in Wahrheit, mein Herr, solange ich denken kann; aber ich bin machtlos, ihm das verlorene Glück zu ersetzen, das Glück, das oft gar nicht von uns selbst abhängt, sondern von einer völlig gegebenen Lage, die den Kindern von ihren Eltern vorbereitet wird.

      … Ich, die ich selbst heimatlos bin und als Mutter von drei kleinen Kindern meinen Unterhalt der Arbeit meines Gatten verdanke, der wiederum für einen alten Vater, unseren ständigen Begleiter auf unsern Wanderreisen, zu sorgen hat, – Sie werden begreifen, mein Herr, daß mir nicht das Glück zuteil geworden ist, meinen armen Verwandten viel zukommen zu lassen. Ich sende meinem Bruder zwanzig Franken im Monat, was ihm, wie ich wenigstens hoffe, den Aufenthalt in einem Krankenhaus oder militärischen Hospiz ermöglichen könnte, bis meine Bemühungen, ihn im Hôtel des Invalides in Paris unterzubringen, einigen Erfolg haben. Nun scheint er das Hospiz verlassen zu haben, ohne weiteres abzuwarten, und ich bin von neuem in lebhafter Unruhe…

      Man sagt, ich hätte eine Pension. Ich erhielt vom Minister einen Brief, der mir das anzeigte, man hat es sogar in den Zeitungen angezeigt; doch bis jetzt ist es nichts damit. Ich verdiene sie so wenig, habe sie weder erwünscht noch erbeten, so daß ich ihr Ausbleiben kaum beklagen kann. Ich erzähle Ihnen davon, mein Herr, damit Sie meine traurige Vermögenslage genau überblicken können. Vor vier Jahren bereits bin ich von jener Liste Pensionsberechtigter (in die das heimliche Wohlwollen irgendeines Mächtigen mich eingetragen) gestrichen worden, weil niemand vom Theater einer solchen Gunst teilhaftig werden kann.

      Kurz und gut, mein Herr, wenn Sie durch Ihre gütige Unterstützung meinem unglücklichen Bruder einen kleinen Posten verschaffen könnten, den er in seinem fast gebrechlichen Zustand auszufüllen imstande wäre, so würden Sie mir einen unsagbaren Dienst erweisen, der mir eine große, dauernde Beruhigung wäre.

      An Caroline Branchu

       Lyon, 4. März 1830.

      Wie albern und martervoll ist doch die Politik! Er brauchte nur seine prinzliche Nase Der Herzog von Orleans. zu zeigen, und alles wäre gut gegangen. Nein! Die Diplomatie und der Geist des Mißverstehens haben das Wort und machen Winkelzüge – natürlich falsche! Jetzt werden sich auch noch die Parteien erheben und sich in diesen Brotstreit mischen. Gott weiß, in welchem Ofen das Brot der Hungernden gebacken wird.

       Paris, 30. Oktober 1831.

      Das Fieber verläßt mich nicht. Dennoch habe ich es heute durch Schnee und Regen geschleppt, des armen Sträflings willen, dessen Traurigkeit allerdings nicht unerträglicher sein kann als die meine.

       Châlons, 14. November 1832.

      In meinem Zimmer habe ich eine junge Taubstumme, die vom Taubstummeninstitut mit einem Herrn zu ihrer Familie nach Hause fährt. Dieser hat mir sie für diese Nacht anvertraut, denn er hat bemerkt, mit welcher Sorge ich mich ihrer während der Fahrt angenommen habe. Morgen werden wir wieder zusammen wegfahren.