Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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ich Dir zu sagen wage, auf die Gefahr hin, Dich mit meinem Jammer mitzubelasten; er ist gegenwärtig groß.

      Die unter Trompetengeschmetter vorüberziehenden Kanonen bereiten mir Schmerz. Doch was vermag das Gebet meines Herzens in einer so schrecklichen Bedrängnis!…

      

       [Paris,] den 19. April 1856.

      Du mußt nicht beunruhigt sein, weil ich Dich all die Tage nicht gesehen habe, mein guter Engel. Ich bin infolge einer großen Erschütterung, die mich sehr mitgenommen hat, zu äußerster Ruhe gezwungen. Ich werde Dir im einzelnen mündlich berichten, weshalb mein Kopf heute so angegriffen ist… Wie habe ich an Dich gedacht! Daran, was Du durch Herrn de Champigny gelitten hast. Sind wir nicht wie zwei Bände des gleichen Werkes? Ein Wort wird Dich aufklären: Nach sechzehnjährigem Schweigen erhebt sich die Tochter der Madame Branchu wie ein Ungewitter und fordert unverzüglich eine Summe von… samt den fünf Prozent Zinsen… in einem Ton, als brülle ein Kriegsschiff los. Erstaunen und Entsetzen haben mir mit allem, was ihr Name Furchtbares in mein Leben getragen, ans Herz gegriffen – mehr noch, als die Forderung an sich, zu einer Zeit, da ich keine zwei Sous hatte, um einen Brief an Dich zu frankieren. Wie bin ich herumgelaufen, um wenigstens einen Teil der Summe zu beschaffen… In der Nacht vom Montag hatte ich einen Blutsturz. Ich glaubte meinen letzten Augenblick gekommen. Der Arzt sagt, dieser Anfall sei recht wohltätig für mich gewesen; die nachfolgende Schwäche aber kannst Du Dir vorstellen, Du, die mir in allem so ähnlich ist…

      

       [Paris,] den 9. Januar 1857.

      Vor fünf Tagen vermeinte ich die Kraft zu haben, Dich aufzusuchen und Dir persönlich auf Deinen letzten Brief zu antworten. Eine äußerst heftige, äußerst unerwartete Erkältung hat mein Fieber mehr als je gesteigert. Meine Liebe, Gute! Es ist unmöglich, Dir die traurige Geistesschwäche zu schildern, in die alles das mich versetzt. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon solche Tage durchgemacht habe. Ich muß es annehmen, da ich jederzeit in jeder Weise viel gelitten habe; doch ich bin zu erschöpft, um mir überhaupt von etwas Rechenschaft zu geben…

      Wieso erstaunt es Dich, in die Vergangenheit so jung zurückzukehren? Sind wir nicht immer jung? Woher kommt es, daß Du fast bekümmert bist über diesen unwiderleglichen Beweis unserer Unsterblichkeit? Unser Dasein kann erlahmen, aber nicht enden. Wir hören nicht auf, zu sein, das darfst Du mir glauben. Es gibt nicht eine Nacht, in der ich nicht meine kleinen Kinder wieder in den Armen, auf meinem Schoß halte! Gewiß, sie sind es selbst! Du darfst gleich mir völlig überzeugt sein, daß sie wirklich am Leben sind, indessen das unsere nur unter Not und Angst und Trauer dahinfließt. Ich behaupte daher, daß jene Liebe, von der Du so oft in Deinen traurigsten Stunden ganz unerwartet ergriffen wirst, ein Teil Deiner selbst ist, und daß Du dann nur die Spiegelung davon erblickst… Das ist ein schönes, tiefes Feuer, Du solltest darum nicht klagen. Es ist der Sinn dessen, was Du Dir damals nicht erklären konntest. Es ist Deine Seele, die ihrem Hang zur ewigen Liebe folgt.

      … Gestern waren die beiden Prinzessinnen bei mir, um mich gewaltsam zum Diner zu entführen. Du weißt, welches Entsetzen ich davor habe, in der Stadt zu speisen. Sie haben mich statt aller Antwort im Bett gefunden. Welch ein grotesker Unterschied zwischen ihrem und meinem Los! Ich hatte noch einen Franken in der Schublade, für den neuen Monat – und Victoire raste… Und da sagen diese guten Damen: »Madame Valmore versteht so gut sich einzurichten.« Die Schwiegertochter der einen hat eine Rente von fünfhunderttausend Franken.

      

       Donnerstag, 3. Dezember (1857).

      Wie herrlich liebevoll Du bist, mir zu schreiben, ohne daß ich Dir antworten kann, Pauline! Wie wohltuend ist Deine Teilnahme in dieser furchtbaren Zeit. Ich umarme Dich im Geiste. Jede Kleinigkeit von dem, was Dich quält und angeht, ist mir wichtig. Das bedeutsamste Wort Deines Briefes ist dies: »Es geht mir besser!« Ja, das ist ein wenig Himmelsfreude. Ich weiß, daß es überall Stürme gibt, selbst unter redlichen Menschen. Die Liebe allein, die göttliche Liebe, kann sie beschwichtigen; und Du hast diese Liebe. Wende sie an!

      

       Samstag.

      Du siehst: ich habe nicht fertig schreiben können. Ich denke an Dich… und ich verstumme, um meine Leiden ohne Aufheulen tragen zu können. Ich führe ein unmögliches Dasein. Ich weiß nichts mehr vom wirklichen Leben – wenn dies das wirkliche Leben ist! Mein gutes Herz, ich kann Dir nur einen Kuß senden und immer wiederholen, wie unwandelbar ich Dir verbunden bin. Meine Schmerzen sind unbeschreiblich. Ich kann nirgends zur Ruhe kommen.

      Guter Engel, komm nicht! Pflege Dich; es ist ein Verbrechen gegen unsere Liebe, sich zu vernachlässigen. Ich sehe es ein! Ich tue alles, meinen Zustand erträglich zu machen, aber nichts [hilft]. Du hast, recht mit allem, was (Du) über diese Krankheit sagst.

      Ich wollte Dir lieber selbst dies Geschreibsel senden, als meinen lieben Hippolyte schreiben lassen. So siehst Du doch wenigstens meine Schrift und den getreuen Namen (Deiner)

      Marceline

      Fünfter Teil. Urteile der Mit- und Nachwelt

       Inhaltsverzeichnis

       Daß die Besten einer Zeit immer die Besten erkennen, bezeugen hier die Äußerungen Balzacs, Sainte-Beuves, Victor Hugos und Baudelaires, und sie haben heute wieder volle Geltung, da die Gestalt der Marceline Desbordes-Valmore nach einer Zeit langer ungerechter Gleichgültigkeit wieder lebendig wird.

      Balzac

       Inhaltsverzeichnis

      Ich habe die zwei kleinen Briefe bekommen – allzu kurz mit ihren zwei Seiten, doch ganz durchduftet von Poesie und durchweht von jener Heimatluft, aus der sie kamen. Es war, als lauschte ich den schönsten Takten einer Beethovenschen Symphonie, und die zwei Tage, die ich in Ihrer Gesellschaft verbrachte, erstanden in meinem Gedächtnis. Und, was mir selten begegnet, ich saß lange Zeit gedankenvoll, die Briefe in der Hand, und machte ein stilles Gedicht; ich sagte mir: sie hat also das Andenken an ein Herz bewahrt, in dem sie ein volles Echo gefunden hat, sie und ihre Worte, sie und all ihre Lieder, – denn wir sind aus dem gleichen Lande, Madame, dem Land der Tränen und der Qualen. Wir sind so gute Nachbarn, als Poesie und Prosa es in Frankreich sein können, und ich weiß mich Ihnen nahe durch die Bewunderung, die ich für Sie empfinde und die mich mehr als eine Stunde vor Ihrem Porträt im »Salon« festgehalten hat. Also, leben Sie wohl! Mein Brief kann meinen Gedanken nur unvollkommen Ausdruck geben, doch Sie werden auch zwischen den Zeilen die Freundschaft zu lesen verstehen, mit der ich ihn schreibe, und meinen Wunsch, Sie mit allen Schätzen der Welt zu beschenken, wenn Gott mir diese Macht verleihen würde. Ja, alle, die ich gern habe, sollten ganz nach eigenem Gefallen eine große, eine mittlere oder eine kleine »Grenadière« besitzen und alle Freuden des Paradieses im vorhinein, denn warum so lange darauf warten? Also leben Sie wohl, geben Sie Ondine einen Kuß auf die Stirn, und bewahren Sie, ich bitte, die Überzeugung meiner aufrichtigen Zuneigung und meiner tiefen mitfühlenden Bewunderung.

      De Balzac

      Aus Aufsätzen Sainte-Beuves

       Inhaltsverzeichnis

       In »Portraits Contemporains.«

      Das Leben selbst, Leidenschaften und schwere Erfahrungen, haben diese Frau, die keinen anderen Lehrmeister hatte als die innere Stimme und das Leid, dahin geführt, ihr Schluchzen zu modulieren. Es gibt zwei Arten von Dichtern: jene, die Erfindungsgabe haben, deutlicher gesagt, die Kunst haben,