Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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zog Rolland sich wieder zurück. Seine Leidenschaft gilt immer nur dem Geistigen, dem Problem, dem ewig Aussichtslosen – auch hier ist es sein Ruhm, einer der ersten und ein einsamer Kämpfer in einem historischen Augenblick gewesen zu sein.

      Gleichzeitig aber eröffnet er Schulter an Schulter mit Peguy und dem alten im Kampf zurückgefundenen Jugendkameraden Suarès einen neuen Feldzug, aber keinen lauten, lärmenden, sondern eine Kampagne, deren stiller verschwiegener Heroismus mehr einem Passionswege glich. Sie spüren schmerzhaft die Korruption, die Verhurtheit, die Banalität und Käuflichkeit der Literatur, die in Paris den Tag beherrscht: sie offen zu bekämpfen wäre aussichtslos gewesen, denn diese Hydra hat alle Zeitschriften in Händen, alle Journale sind ihr dienstbar. Nirgends ist ihre glatte, quallige, tausendarmige Wesenheit tödlich zu treffen. Und so beschließen sie, ihr entgegenzuarbeiten, nicht mit den eigenen Mitteln, dem Lärm und der Betriebsamkeit, sondern mit dem moralischen Gegenbeispiel, der stillen Aufopferung und beharrlichen Geduld. Fünfzehn Jahre lang erscheint ihre Zeitschrift, die »Cahiers de la quinzaine«, die sie selbst schreiben und verwalten. Kein Centime wird für Reklame verausgabt, kaum findet man bei irgendeinem Buchhändler ein Heft, Studenten, ein paar Literaten, ein kleiner enger Kreis sind die Leser, die allmählich erst eine Gemeinde werden. Über ein Jahrzehnt läßt Romain Rolland alle seine Werke in diesen Heften erscheinen, den ganzen Johann Christof, Beethoven, Michelangelo, die Dramen, ohne – der Fall ist beispiellos in der neueren Literatur – einen Franken Honorar zu erhalten (und seine finanziellen Verhältnisse waren damals wahrhaftig keine rosigen). Aber nur um ihren Idealismus zu erhärten, um ein moralisches Beispiel zu schaffen, verzichten diese heroischen Menschen ein Jahrzehnt auf Besprechungen, auf Verbreitung und Honorar, auf diese heilige Dreifaltigkeit aller Literatengläubigkeit. Und als endlich die Zeit der Cahiers gekommen war durch Rollands, durch Peguys, durch Suarès’ späten Ruhm, da endet ihre Herausgabe, ein unvergängliches Denkmal des französischen Idealismus und künstlerisch menschlicher Kameradschaft.

      Und noch ein drittes Mal versucht sich die geistige Leidenschaftlichkeit Rollands in einer Tat. Noch ein drittes Mal tritt er für eine Lebensstunde in eine Gemeinschaft, um Lebendiges im Lebendigen zu schaffen. Eine Gruppe junger Leute hat in richtiger Erkenntnis des Unwertes und der Verderblichkeit des französischen Boulevarddramas, dieser ewigen Ehebruchsakrobatik einer gelangweilten Bürgerlichkeit, versucht, das Drama wieder dem Volke, dem Proletariat und damit einer neuen Kraft zurückzugeben. In ungestümer Feurigkeit nimmt Rolland die Bemühung auf, schreibt Aufsätze, Manifeste, ein ganzes Buch, und vor allem, er verfaßt aus dem innersten Gedanken heraus selbst eine Reihe von Dramen im Geiste und zur Verherrlichung der französischen Revolution. Jaurès führt mit einer Rede seinen Danton den französischen Arbeitern vor, auch die andern werden gespielt, aber die Tagespresse, offenbar in geheimer Witterung feindlicher Kraft, sucht sorglich die Leidenschaft abzukühlen. Und wirklich, die andern Teilnehmer erkalten im Eifer, und bald ist der schöne Elan der jugendlichen Gruppe gebrochen: Rolland bleibt allein zurück, reicher an Erfahrung und Enttäuschung, aber nicht ärmer an Gläubigkeit.

      Allen großen Bewegungen leidenschaftlich verbunden, war Rolland doch immer innerlich frei geblieben. Er gibt seine Kraft in die Bestrebungen der andern, ohne sich willenlos von ihnen mitreißen zu lassen. Alles enttäuscht ihn, was er gemeinsam mit andern schafft: das Gemeinsame wird immer trübe durch das Unzulängliche aller Menschlichkeit. Der Dreyfusprozeß wird eine politische Affäre, das Théatre du Peuple geht zugrunde an Rivalitäten, seine Dramen, die dem Volke bestimmt waren, erlöschen an einem einzigen Theaterabend, seine Ehe zerbricht – aber nichts kann seinen Idealismus zerbrechen. Wenn das gegenwärtige Leben nicht durch den Geist zu bezwingen ist, so verliert er darum nicht den Glauben an den Geist: aus Enttäuschung erweckt er sich die Bilder der Großen, die die Trauer durch die Tätigkeit, das Leben durch die Kunst besiegen. Er läßt das Theater, er läßt den Lehrstuhl, er tritt zurück aus der Welt, um das Leben, das sich den reinen Taten verweigert, in gestaltetem Bilde zu fassen. Enttäuschungen sind für ihn nur Erfahrungen, und über eine kleine Zeit baut er nun in zehn Jahren der Einsamkeit ein Werk, das wirklicher ist im ethischen Sinne als die Wirklichkeit, und das den Glauben seiner Generation in eine Tat verwandelt: den »Johann Christof«.

      Ein Jahrzehnt Stille

       Inhaltsverzeichnis

      Einen Augenblick lang war der Name Romain Rollands dem Pariser Publikum als der eines gelehrten Musikers, eines hoffnungsvollen Dramatikers vertraut gewesen. Dann ist er durch Jahre wieder verschollen, denn keine Stadt besitzt die Fähigkeit des Vergessens so gründlich und meistert sie so schonungslos wie Frankreichs Hauptstadt. Nie mehr wird der Name des Abseitigen genannt, nie selbst in den Kreisen der Dichter und Literaten, die doch die Wissenden um ihre eigenen Werte sein sollten. Man blättere zur Probe nach in allen den Revuen und Anthologien, in den Geschichten der Literatur: nirgends wird man Rolland auch nur verzeichnet finden, der damals schon ein Dutzend Dramen, die wundervollen Biographien und sechs Bände des »Johann Christof« veröffentlicht hatte. Die »Cahiers de la quinzaine« sind Geburtsstätte und gleichzeitig Grab seiner Werke, er selbst ist ein Fremder in der Stadt zur selben Zeit, da er ihre geistige Existenz so bildnerisch und umfassend wie kein zweiter gestaltet. Längst ist das vierzigste Lebensjahr überschritten, noch kennt er kein Honorar, keinen Ruhm, noch bedeutet er keine Macht, keine Lebendigkeit. Wie Charles Louis Philippe, wie Verhaeren, Claudel, Suarès, die Stärksten um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, ist er unwirksam, unbekannt auf der Höhe seines Schaffens. Sein Leben ist lange das Schicksal, das er selbst so hinreißend erzählt: die Tragödie des französischen Idealismus.

      Aber eben diese Stille ist notwendig zur Vorbereitung von Werken solcher Konzentration. Das Gewaltige braucht immer erst Einsamkeit, ehe es die Welt gewinnt. Nur jenseits des Publikums, nur in heroischer Gleichgültigkeit gegen den Erfolg wagt sich ein Mensch an ein so aussichtsloses Beginnen wie einen Giganten-Roman in zehn Bänden, der sich überdies in einer Zeit auflodernden Nationalismus gerade einen Deutschen zum Helden nimmt. Nur in solcher Abseitigkeit kann sich eine ähnliche Universalität des Wissens zum Werk entwickeln, nur die ungestörte, vom Atem der Menschen unberührte Stille es ohne Hast in vorgedachter Fülle entfalten.

      Ein Jahrzehnt ist Rolland der große Verschollene der französischen Literatur. Ein Geheimnis umgibt ihn: es heißt Arbeit. Ein dunkler Puppenzustand von Unbekanntheit umschließt jahrelang, jahrzehntelang seine einsame Mühe, der sich dann beflügelt das kraftbeschwingte Werk entringt. Viel Leiden ist in diesen Jahren, viel Schweigen und viel Wissen um die Welt, das Wissen eines Menschen, um den niemand weiß.

      Bildnis

       Inhaltsverzeichnis

      Zwei Zimmerchen, nußschalengroß, im Herzen von Paris, knapp unter dem Dach: fünf Stockwerke hoch schraubt sich die hölzerne Treppe. Unten donnert ganz leise wie ein fernes Gewitter der Boulevard Montparnasse. Manchmal zittert auf dem Tisch ein Glas, wenn unten der schwere »Motorbus« vorüberdröhnt. Aber von den Fenstern geht der Blick über die niederen Nachbarhäuser in einen alten Klostergarten, und im Frühling weht ein weicher Duft von Blüten in die aufgetanen Fenster. Kein Nachbar hier oben, keine Bedienung als die alte Conciergefrau, die den Einsamen vor Gästen und Besuchern schützt.

      Im Zimmer Bücher und Bücher. An den Wänden klettern sie auf, den Boden überhäufen sie, bunte Blumen wuchern sie über Fensterbrett, Sessel und Tisch, dazwischen Papiere verstreut, ein paar Gravüren an der Wand, Photographien von Freunden und eine Büste Beethovens. Nah dem Fenster ein kleiner Holztisch mit Feder und Papier, zwei Sessel, ein kleiner Ofen. Nichts in der engen Zelle, was kostbar wäre, nichts was weich zur Ruhe lüde oder zu gemächlicher Geselligkeit. Eine Studentenbude, ein kleiner Kerker der Arbeit.

      Vor den Büchern er selbst, der milde Mönch dieser Zelle, immer dunkel gekleidet in der Art eines Geistlichen, schmal, hoch, zart, das Gesicht ein wenig blaß und gegilbt, wie das eines Menschen, der selten im Freien lebt. Feine Falten unter den Schläfen, man spürt einen Schaffenden, der viel wacht und wenig schläft.