Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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wie Spreu von der Tenne, das Heiligste des Herzens verstößt er ihm in die Finsternis. Diese Broschüre, die ganz Europa erschreckte, mochten Ältere mit leichtem Kopfschütteln abwehren – in diesen jungen Menschen aber, die Tolstoi als den Einzigen einer verlogenen und mutlosen Zeit verehrten, wirkt sie wie ein Waldbrand des Gewissens. Furchtbare Entscheidung zwischen Beethoven und dem anderen Heiligen ihres Herzens ist ihnen zugemutet. »Die Güte, Klarheit, die absolute Wahrhaftigkeit dieses Menschen hatten ihn mir zum fehllosen Führer in der moralischen Anarchie gemacht«, schreibt Rolland von dieser Stunde, »aber gleichzeitig liebte ich seit meiner Kindheit leidenschaftlich die Kunst, sie war, insbesondere die Musik, meine lebendige Nahrung, ja, ich kann sogar sagen, daß die Musik meinem Leben so nötig war wie das Brot.« Und eben diese Musik verflucht Tolstoi, sein geliebter Lehrer, der Menschen Menschlichster, als einen »pflichtlosen Genuß«, verhöhnt als Verführer zur Sinnlichkeit den Ariel der Seele. Was tun? Das Herz des jungen Menschen krampft sich zusammen: soll er dem Weisen von Jasnaja Poljana folgen, sein Leben loslösen von jedem Willen zur Kunst, soll er seiner innersten Neigung gehorchen, die alles Leben in Musik und Wort verwandeln will? Einem muß er untreu werden: entweder dem verehrtesten Künstler oder ihr selbst, der Kunst, dem geliebtesten Menschen oder der geliebtesten Idee.

      In diesem Zwiespalt entschließt sich der junge Student, etwas ganz Unsinniges zu tun. Er setzt sich eines Tages hin und richtet aus seiner kleinen Mansarde einen Brief in die unendliche russische Ferne hinüber, einen Brief, in dem er Tolstoi die Gewissensnot seines Zweifels schildert. Er schreibt ihm, wie Verzweifelte zu Gott beten, ohne Hoffnung auf das Wunder einer Antwort, nur aus dem brennenden Bedürfnis der Konfession. Wochen vergehen, Rolland hat längst die törichte Stunde vergessen. Aber eines Abends, als er in sein Dachzimmer heimkehrt, findet er auf dem Tisch einen Brief oder vielmehr ein kleines Paket. Es ist die Antwort Tolstois an den Unbekannten, in französischer Sprache geschrieben, ein Brief von 38 Seiten, eine ganze Abhandlung. Und dieser Brief vom 14. Oktober 1887 (der später als das 4. Heft der dritten Serie der Cahiers de la Quinzaine von Peguy veröffentlicht wurde) beginnt mit den liebenden Worten »Cher frère«. Er spricht zuerst die tiefe Erschütterung des großen Mannes aus, dem der Schrei des Hilfesuchenden bis in das Herz gedrungen. »Ich habe Ihren Brief empfangen, er hat mich im Herzen berührt. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen gelesen.« Dann versucht er dem Unbekannten seine Ideen über die Kunst zu entwickeln: daß nur jene einen Wert habe, die Menschen verbinde, und daß nur jener Künstler zähle, der seiner Überzeugung ein Opfer bringt. Nicht Liebe zur Kunst, sondern Liebe zur Menschheit sei die Vorausbedingung aller wahren Berufung; nur wer von ihr erfüllt sei, dürfe hoffen, jemals in der Kunst etwas Wertvolles zu leisten.

      Diese Worte sind lebensentscheidend für die Zukunft Romain Rollands geworden. Aber was den Beginnenden noch mehr erschüttert als die Lehre – die Tolstoi ja noch oft und in deutlicheren Formen ausgesprochen –, ist das Geschehnis der menschlichen Hilfsbereitschaft, nicht also so sehr das Wort, sondern die Tat dieses gütigen Menschen. Daß der berühmteste Mann seiner Zeit auf den Anruf eines Namenlosen, eines Unbekannten, eines kleinen Studenten in einer Pariser Gasse, sein Tagewerk weggelegt und einen Tag oder zwei darauf verwandt hatte, diesem unbekannten Bruder zu antworten und ihn zu trösten, dies wird Rolland ein Erlebnis, ein tiefes und schöpferisches Erlebnis. Damals hat er in Erinnerung eigener Not, in Erinnerung der fremden Tröstung gelernt, jede Krise eines Gewissens als etwas Heiliges zu betrachten, jede Hilfeleistung als erste moralische Pflicht des Künstlers. Und von jener Stunde, da er das Briefblatt löste, war in ihm der große Helfer, der brüderliche Berater erstanden. Sein ganzes Werk, seine menschliche Autorität hat hier ihren Anbeginn. Nie hat er seitdem, auch in der drückendsten Fülle eigener Arbeit im Gedenken an die empfangene Tröstung, einem Anderen Hilfe in zwingender Gewissensnot verweigert, aus dem Briefe Tolstois erwuchsen unzählige Rollands, Tröstung aus Tröstung weitwirkend über die Zeit. Dichter zu sein, ist ihm von nun ab eine heilige Mission, und er hat sie erfüllt im Namen seines Meisters. Selten hat die Geschichte schöner als an diesem Beispiel bezeugt, daß in der moralischen Welt wie in der irdischen nie ein Atom an Kraft verloren geht. Die Stunde, die Tolstoi wegwarf an einen Unbekannten, ist auferstanden in tausend Briefen Rollands an tausend Unbekannte, unendliche Saat weht heute durch die Welt von diesem einzelnen hingestreuten Samenkorn der Güte.

      Rom

       Inhaltsverzeichnis

      Aus allen Fernen sprechen Stimmen auf den Unschlüssigen ein: die französische Heimat, die deutsche Musik, die Mahnung Tolstois, der feurige Anruf Shakespeares, Wille zur Kunst, Zwang zu bürgerlicher Existenz. Da tritt zwischen ihn und die rasche Entscheidung noch verzögernd der ewige Freund aller Künstler: der Zufall.

      Alljährlich verleiht die École Normale ihren besten Schülern zweijährige Stipendien zur Reise, den Archäologen nach Griechenland, den Historikern nach Rom. Rolland strebt die Berufung nicht an: zu ungeduldig drängt sein Wunsch, schon im Wirklichen tätig zu wirken. Aber das Los sucht immer den, der es sich nicht selber ersehnt. Zwei Kameraden haben Rom ausgeschlagen, die Stelle ist vakant, so wird er gewählt, fast wider seinen Willen. Rom, das ist für den noch Unbelehrten tote Vergangenheit, in kalte Trümmer geschriebene Geschichte, die er aus Schrift und Pergamenten entziffern soll. Eine Schulaufgabe, ein Pensum und nicht lebendiges Leben; ohne viel Erwartung pilgert er zur ewigen Stadt.

      Sein Amt, seine Aufgabe wäre dort, in dem finstern Palazzo Farnese Dokumente zu sichten, Geschichte aus Registern und Büchern zu klauben. Einen kurzen Tribut zahlt er diesem Dienst und verfaßt in den Archiven des Vatikans eine Denkschrift über den Nuntius Salviati und die Plünderung Roms. Aber bald hat nur das Lebendige über ihn mehr Macht: die wunderbare Klarheit des Lichtes der Campagna, die alle Dinge in eine selbstverständliche Harmonie auflöst und das Leben als leicht und rein empfinden läßt, strömt nach innen ein. Zum ersten Male wahrhaft frei, fühlt er sich zum ersten Male auch wahrhaft jung, eine Trunkenheit des Lebens kommt über ihn, bald ihn hinreißend in leidenschaftliche Gefühle und Abenteuer, bald seine ziellosen Träume zu wahrhafter Schöpfung steigernd. Unwiderstehlich wie bei so vielen erregt die linde Anmut dieser Stadt künstlerische Neigung; aus den steinernen Denkmälern der Renaissance hallt Ruf zur Größe dem Wandernden entgegen, die Kunst, die man in Italien stärker denn irgendwo als Sinn und heroisches Ziel der Menschheit empfindet, reißt ganz den Schwankenden an sich. Vergessen sind für Monate die Thesen, selig und frei schlendert Rolland durch die kleinen Städte bis nach Sizilien hinab, vergessen ist auch Tolstoi: in dieser Sphäre sinnlicher Erscheinung, im bunten Südland hat die Entsagungslehre der russischen Steppe keine Macht. Aber der alte Freund und Führer der Kindheit, Shakespeare, wird plötzlich wieder nah: ein Zyklus von Vorstellungen Ernesto Rossis zeigt ihm plötzlich die Schönheit seiner dämonischen Leidenschaft und weckt hinreißendes Verlangen, gleich Shakespeare Geschichte in Gedicht zu verwandeln. Um ihn stehen täglich die steinernen Zeugen vergangener großer Jahrhunderte: er ruft sie auf. Der Dichter ist plötzlich wach in ihm. In seliger Untreue zu seinem Berufe schafft er gleich eine ganze Reihe von Dramen, schafft sie im Fluge, mit jener brennenden Ekstase, die unverhoffte Beseligung immer im Künstler erweckt: die ganze Renaissance soll wie Shakespeares England in den Königsdramen erstehen; und sorglos, noch heiß vom Rausche der Verzückung, schreibt er eines nach dem andern, ohne um ihr irdisch-theatralisches Schicksal besorgt zu sein. Keine einzige jener romantischen Dichtungen erreicht die Bühne, keine ist heute mehr zu finden oder öffentlich zu erlangen, denn der reife Künstler hat sie verworfen und liebt in den verblaßten Handschriften nur mehr die eigene schöne und gläubige Jugend.

      Aber das tiefste und weitreichendste Erlebnis jener römischen Jahre ist eine menschliche Begegnung, eine Freundschaft. Es gehört zum Mystisch-Symbolischen der Biographie Rollands, daß jede Epoche seiner Jugend ihn immer mit den wesentlichsten Menschen der Zeit verbindet, obwohl er eigentlich nie Menschen sucht, im tiefsten ein Einsamer ist, der am liebsten seinen Büchern lebt. Immer aber bringt ihn das Leben nach dem geheimnisvollen Gesetze der Anziehung in heroische Sphäre, immer wird er durch Beziehung den Gewaltigsten verbunden. Shakespeare, Mozart, Beethoven sind die Sterne seiner Kindheit; in den Schuljahren findet er Suarès, Claudel als Kameraden; in den Lehrjahren wird Renan ihm in einer Stunde, da er kühn den großen Weisen besucht, zum Führer, Spinoza sein religiöser