Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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Kulisse aufgestellt. Der Heimgekehrte vermag nun die dritte Bindung seiner Begabung und seines Berufes zu vollziehen, er wird nach Erfolg seiner These »Les origines du théatre lyrique moderne« (Histoire de l’Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti) Lehrer der Musikgeschichte zuerst an der École Normale, dann von 1903 an der Sorbonne; die »éternelle floraison«, die ewige Blüte der Musik, als eine unendliche Folge durch die Zeiten zu schildern, deren jede doch wieder ihre seelische Schwingung in den Gestaltungen verewigt, ist seine Aufgabe, und er zeigt – zum erstenmal sein Lieblingsthema entdeckend –, wie die Nationen in dieser scheinbar abstrakten Sphäre zwar ihre Charaktere ausprägen, aber doch immer die höhere, die zeitlose, die internationale Einheit unbewußt aufbauen. Fähigkeit des Verstehens und des Verstehenlassens ist ja der innerste Kern seiner menschlichen Wirksamkeit, und hier, im vertrautesten Element, wird seine Leidenschaft mitteilsam. In lebendigerem Sinne als alle vor ihm lehrt er seine Wissenschaft, erzeigt im unsichtbar Seienden der Musik, daß das Große in der Menschheit niemals einer Zeit, einem Volke allein zugeteilt ist, sondern in ewiger Wanderschaft über die Grenzen und Zeiten als heiliges Feuer glüht, das ein Meister dem andern weiterreicht und das nie verlöschen wird, solange noch der Atem der Begeisterung vom Munde der Menschen ausgeht. Es gibt keinen Gegensatz, keinen Zwiespalt in der Kunst, »die Geschichte muß zum Gegenstand die lebendige Einheit des menschlichen Geistes haben, darum ist sie gezwungen, die Bindung aller seiner Gedanken aufrechtzuerhalten«.

      Von jenen Vorträgen, die Romain Rolland in der »École des hautes études sociales« und der Sorbonne hielt, erzählen Zuhörer noch heute mit unverminderter Dankbarkeit. Historisch war an jenen Vorträgen eigentlich nur der Gegenstand, wissenschaftlich bloß das Fundament. Rolland hat heute neben seinem universalen Ruhm noch immer den fachlichen in der Musikforschung, das Manuskript von Luigi Rossis »Orfeo« entdeckt und die erste Würdigung des vergessenen Francesco Provencale gegeben zu haben, aber seine menschlich umfassende, wahrhaft enzyklopädische Betrachtung machte jene Stunden über »die Anfänge der Oper« zu Freskobildern ganzer verschollener Kulturen. Zwischen den Worten ließ er die Musik sprechen, gab am Klavier kleine Proben, die längst verklungene Arien in demselben Paris, wo sie vor dreihundert Jahren zum erstenmal aufgeblüht waren, aus Staub und Pergament wieder silbern aufwachen ließen. Damals begann in dem noch jungen Rolland jene unmittelbare Wirkung auf die Menschen, jene erläuternde, fühlende, erhebende, bildende und begeisternde Kraft, die seitdem, durch sein dichterisches Werk immer fernere Kreise erfassend, sich ins Unermeßliche gesteigert hat, im Kernpunkt aber ihrer Absicht treu geblieben ist: in allen Formen der Geschichte und Gegenwart einer Menschheit das Große ihrer Gestalten und die Einheit aller reinen Bemühung zu zeigen.

      Selbstverständlich machte seine Leidenschaft für die Musik nicht im Historischen halt. Nie ist Romain Rolland Fachmensch geworden, jede Vereinzelung widerstrebt seiner synthetischen, seiner bindenden Natur. Für ihn ist alle Vergangenheit nur Vorbereitung für die Gegenwart, das Gewesene nur Möglichkeit gesteigerten Erfassens der Zukunft. Und an die gelehrten Thesen und die Bände der »Musiciens d’autrefois«, »Händel« der »Histoire de l’Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti« reihen sich die Aufsätze der »Musiciens d’aujourd’hui«, die er als Vorkämpfer für alles Moderne und Unbekannte in der »Revue de Paris« und »Revue de l’Art dramatique« zuerst veröffentlicht hatte. Das erste Porträt Hugo Wolfs in Frankreich, das hinreißendste des jungen Richard Strauß und Debussys ist in ihnen gezeichnet; unermüdlich blickt er nach allen Seiten, die neuen schöpferischen Kräfte der europäischen Tonkunst zu gewahren; er reist zum Straßburger Musikfest, Gustav Mahler zu hören, und nach Bonn zu den Beethovenfesttagen. Nichts bleibt seiner leidenschaftlichen Wissensgier, seinem Gerechtigkeitssinn fremd: von Katalonien bis Skandinavien lauscht er auf jede neue Welle im unendlichen Meer der Musik, im Geist der Gegenwart nicht minder heimisch als in dem der Vergangenheit.

      Lehrend in diesen Jahren, lernt er auch selbst vom Leben viel. Neue Kreise tun sich ihm auf in demselben Paris, das er bisher kaum anders als von dem Fenster der einsamen Studierstube gekannt. Seine Stellung an der Universität, seine Verheiratung bringen den Einsamen, der bisher nur mit einzelnen vertrauten Freunden und den fernen Heroen gelebt, in Berührung mit der geistigen und mondänen Gesellschaft. Im Hause seines Schwiegervaters, des berühmten Archäologen Michel Breal, lernt er die Leuchten der Sorbonne kennen, in den Salons das ganze Getümmel von Finanzmännern, Bürgern, Beamten, alle Schichten der Stadt, durchwoben mit den in Paris unvermeidlichen kosmopolitischen Elementen. Der Romantiker Rolland wird in diesen Jahren unwillkürlich Beobachter, sein Idealismus gewinnt, ohne an Intensität zu verlieren, kritische Kraft. Was er an Erfahrungen (oder besser an Enttäuschungen) aus diesen Begegnungen in sich sammelt, dieser ganze Schutt von Alltäglichkeit, wird später Zement und Unterbau für die Pariser Welt in »Der Jahrmarkt« (»La foire sur la place«) und »Das Haus« (»Dans la maison«). Gelegentliche Reisen nach Deutschland, die Schweiz, Österreich, das geliebte Italien bringen Vergleich und neues Wissen; immer weiter spannt sich über dem Wissen der Geschichte der wachsende Horizont der modernen Kultur. Der Heimgekehrte aus Europa hat sich Frankreich und Paris entdeckt, der Historiker die wichtigste Epoche für den Lebendigen: die Gegenwart.

      Kampfjahre

       Inhaltsverzeichnis

      Alles ist nun in dem Dreißigjährigen gespannte Kraft, verhaltene Leidenschaft zur Tat. In allen Zeichen und Bildern, in der Vergangenheit und an den künstlerischen Gestalten der Gegenwart hat sein begeisterter Sinn Größe gesehen: nun drängt es ihn, sie zu erleben, sie zu gestalten.

      Aber ein Wille zur Größe findet eine kleine Zeit. Als Rolland beginnt, sind die Gewaltigen Frankreichs schon dahingegangen, Victor Hugo, der unentwegte Rufer zum Idealismus, Flaubert, der heroische Arbeiter, Renan, der Weise, sind tot, die Gestirne des nachbarlichen Himmels, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, sind gesunken oder verdunkelt. Die Kunst, selbst die ernste eines Zola, eines Maupassant, dienen dem Täglichen, schaffen nur Bildnis einer verderbten und verweichlichten Zeit. Die Politik ist kleinlich und vorsichtig, die Philosophie schulmäßig und abstrakt geworden: nichts Gemeinsames bindet mehr die Nation, deren Glaubenskraft in der Niederlage für Jahrzehnte erschüttert worden ist. Er will wagen, aber die Welt will kein Wagnis. Er will kämpfen, aber die Welt will Behaglichkeit. Er will Gemeinschaft, aber die Welt keine andere als die des Genusses.

      Da stürzt plötzlich ein Sturm über das Land. Die untersten Tiefen Frankreichs sind aufgewühlt, mit einem Male steht die ganze Nation in Leidenschaft um ein geistiges, ein moralisches Problem: und leidenschaftlich wie ein verwegener Schwimmer stürzt sich Rolland als einer der Ersten in die aufgeregte Flut. Über Nacht hat die Dreyfus-Affäre Frankreich in zwei Parteien zerrissen, es gibt da kein Abseitsstehen, keine kühle Betrachtung, die Besten faßt die Frage am stärksten, für zwei Jahre ist die ganze Nation messerscharf in zwei Meinungen, in Schuldig oder Unschuldig zerrissen, und dieser Schnitt geht erbarmungslos – am besten kann man es im »Johann Christof« und den Memoiren Peguys nachlesen – mitten durch Familien, trennt Brüder von Brüdern, Väter von Söhnen, Freunde von Freunden. Wir von heute können kaum mehr verstehen, daß die Angelegenheit eines wegen Spionage verdächtigten Artilleriehauptmanns für ein ganzes Land zur Krise wurde, aber die Leidenschaft wuchs über den Anlaß hinaus ins Geistige: eine Frage des Gewissens war jedem Einzelnen gestellt, Entscheidung zwischen Vaterland und Gerechtigkeit, und mit explosiver Wucht schmettert sie aus jedem Aufrichtigen die moralischen Kräfte in den Kampf. Rolland war einer der ersten in jenem engen Kreise, der von allem Anfang an für die Unschuld des Dreyfus eintrat, und gerade die Aussichtslosigkeit jener allerersten Bemühungen war für ihn Anreiz des Gewissens; während Peguy mehr von der mystischen Kraft des Problems ergriffen war, von der er eine sittliche Reinigung seines Vaterlandes erhoffte, während er agitatorisch in Broschüren mit Bernard Lazare die Affäre zum Flammen brachte, begeisterte Rolland das immanente Problem der Gerechtigkeit. Mit einer dramatischen Paraphrase »Die Wölfe«, die er unter dem Pseudonym St. Just veröffentlichte und die in Gegenwart Zolas, Scheurer-Kestners, Piquarts unter leidenschaftlicher Anteilnahme der Zuhörer gespielt wurde, hob er das Problem aus der Zeit ins Ewige hinaus. Und je mehr der Prozeß politisch wurde, seit sich die Freimaurer, die Antiklerikalen,