werde Ihnen schreiben.«
Paul ging. Brandeis schrieb auf einen der Zettel, die sauber geschnitten, viereckig und schimmernd auf seinem Schreibtisch lagen und an Oblatenplättchen erinnerten, folgendes: »Enders-Bernheim«.
XV
Paul ging in ein Restaurant. Er konnte nicht essen. Der Zustand, in dem er sich vor dem Besuch bei Brandeis befunden hatte, sollte also jetzt beständig werden. Wer weiß, wie lange die Antwort Brandeis’ brauchen konnte! Die nächsten Tage und Nächte würden vergiftet sein. Er hätte in diesen Stunden einen guten Freund gebraucht, einen Bruder, eine Mutter. Unmöglich, nach Hause zu gehn. In den Straßen bleiben. Es war das beste. Wie ein Obdachloser herumgehn.
Zum erstenmal sah Paul Bernheim die Grenzen seines Vermögens. Er sah sich ohne Aufenthalt und sicher den gefährlichen Ufern der Armut entgegentreiben. Bis jetzt hatte ihn der endlose Ozean des Reichtums umgeben. Es genügte ihm, den genauen Umfang seines Vermögens zu kennen, um schon dessen Ende zu sehen. Für einige kurze Stunden wurde ihm klar, daß seine Hoffnungen, seine außergewöhnliche Begabung, sein Charme, seine Sicherheit, daß sie alle Folgen seiner materiellen Geborgenheit waren, Früchte des Reichtums wie die Pflanzen im Garten seines väterlichen Hauses. Es war, als ob durch die Begegnung mit Irmgard und ihrem Onkel und durch die Aussicht auf die Vermählung mit der chemischen Industrie Paul Bernheim erst das ganze Ausmaß der Bitterkeit erkannt hätte, die der Besitz einer kleinen Summe in dieser Welt bedeutet. Seine fünfundzwanzigtausend Mark schienen tatsächlich an Wert zu verlieren, nur weil sie auf einmal die riesigen Summen des Hauses Enders in der Nähe fühlten. Der Besuch bei Brandeis hatte ihn gedemütigt. Denn Paul Bernheim gehörte selbstverständlich zu den Menschen, die sich nichts zu vergeben glauben, wenn sie zum Beispiel um Liebe und Freundschaft bitten, die aber einen baren Verlust an ihrer Würde erleiden, wenn sie sich eine materielle Unterstützung gefallen lassen müssen. Unter den Werten, die sie ein für allemal in ihrer frühen Jugend klassifiziert haben, bewahrt das Geld einen höheren Rang als das Herz und das Leben. Sie wären imstande, das Blut, das ihnen jemand schenkt, um sie am Leben zu erhalten, leichter entgegenzunehmen als eine geliehene oder geschenkte Summe. Ja, Paul begann Brandeis langsam zu hassen, mit dem Haß, der die Dankbarkeit ersetzt und ihren Namen und ihr Gesicht annimmt.
Paul Bernheim sah sein eigenes Antlitz unter den Gesichtern der namenlosen Toten in der Vitrine der Polizei. Er erinnerte sich an jenen Abend, an dem er aus Übermut sich hatte verhaften und auf ein Lastauto verladen lassen. Es war seine einzige Begegnung mit der andern Welt gewesen, mit der gesetzlosen, heimatlosen, nächtlichen. Seine eigene Zukunft nahm die verwüsteten Angesichter der unbekannten Toten in der Vitrine an. Als Knabe hatte er manchmal mit dem freiwilligen Tod gespielt, eine scharfe Messerspitze gegen die nackte Brust gehalten, aus Eitelkeit und in der Hoffnung, daß sein Ende einen allgemeinen Aufruhr zu Hause, in der Stadt und in der Welt vielleicht verursachen würde. Schon hörte er seine Eltern klagen, den Nachruf des Lehrers, die ehrfürchtigen und scheuen Gespräche der Kameraden.
Das überwältigende Mitleid, das er damals für sich gefühlt hatte, überfiel ihn heute wieder. Er wollte sich beweinen und beweint wissen. Ein zärtliches Gefühl der Kameradschaft trieb ihn in die Nähe der Bettler an den Straßenecken und der Männer, denen man die Verlorenheit ansah, den Hunger, die Obdachlosigkeit, die Verwüstung. Es kam ihm nicht einen Augenblick in den Sinn, daß er jeden von seinen neuen und so plötzlich erworbenen Freunden mit einem Zehntel seines Vermögens reich und sorglos gemacht hätte. Paul Bernheim sah keinen Unterschied zwischen dem Bettler, der die Hand um Almosen ausstreckte, und einem Mann, der, um eine Millionärin zu heiraten, eine »gesellschaftliche Stellung« bei Brandeis gesucht hatte.
Er wollte nach Hause mit dem vagen Entschluß, irgendwelche Vorbereitungen für irgendein Ende zu treffen. Er stellte sich vor, daß es angenehm war, den Revolver aus der Schublade zu ziehen, die Korrespondenz zu ordnen, vielleicht einen Brief zu schreiben und alle traditionellen Handlungen und Griffe eines Selbstmordkandidaten auszuführen. Er freute sich mit der Aussicht auf die Heimlichkeit einer Stunde, in der man nach überlieferter Weise vor dem Schreibtisch sitzt und Abschied vom Leben nimmt. Eine Stunde, deren dämmernde Zartheit und deren wehmütiger Widerschein nur an einen Winterabend vor dem Kaminfeuer erinnert, wenn noch kein anderes Licht entzündet ist.
Er stand wieder vor seiner Wohnung und sah durch die Gitter seines Briefkastens einen hellen Brief schimmern. Er zögerte, den Briefkasten aufzumachen. Noch, schien es ihm, war sein ganzer Tribut an Wehmut nicht entrichtet. Noch hatte er die Wollust der freiwilligen Agonie nicht bis zum Grunde ausgekostet. Zwar glaubte er nicht ehrlich an einen endgültigen Tod. Aber Menschen seiner Art fühlen für einige Stunden die Notwendigkeit, ihr Unglück zu übertreiben, sie wollen nicht gestört, nicht getröstet sein. Es ist, als zwänge sie irgendeine Gerechtigkeit, für das sorglose Leben, das sie führen dürfen, zu büßen; als bescherte auch ihnen das Schicksal ihre »Krisen«, damit sie wenigstens eine Not kennenlernen, die sich in ihrer Phantasie zuträgt. Paul Bernheim hätte gerne gewünscht, noch erheblich länger zu leiden, dem endgültigen Tod so nahe zu kommen, daß eine Rettung nur noch ein Werk des Himmels sein konnte oder wie ein Werk des Himmels erscheinen mußte. Dieser Brief, von dem er befürchtete, daß er eine Rettung war, kam zu früh, zu einfach und zu billig. Dieser Brief machte der Krise ein zu schnelles Ende. Dies war ihm klar: daß er sich etwas vergeben hatte, indem er zu Brandeis gegangen war. Seine Heirat, sein Leben und die ganze Zukunft, von der er nicht zweifelte, daß sie groß und leuchtend sein würde, hätte er nun diesem Brandeis zu verdanken. Und vielleicht nur deshalb, das heißt: aus Scham, verletztem Hochmut, gekränkter Eitelkeit, flüchtete er sich in den Gedanken an den Tod. Aber so hochmütig und eitel er auch war, diese Eigenschaften reichten nicht aus, um Paul Bernheim einen freiwilligen Tod einem abhängigen Leben vorziehn zu lassen! Nein! Sie reichten gerade für die Wehmut einer Selbstmordstimmung.
Aber es scheint, daß es den Leuten seines Schlages nicht einmal vergönnt ist, ein eingebildetes Unglück ganz zu tragen. Es scheint, daß die Schutzengel, von denen die Bernheims zu jeder Zeit umgeben sind, darüber wachen, daß ihren Pfleglingen die große Not fernbleibe wie die große Lust und daß ihr Leben sich in den lauen Sphären abspiele, in denen die Winter milde sind und die Sommer kühl und in denen die Katastrophen das Aussehen leichter Trübungen annehmen. Niemals sollte Paul Bernheim der lächelnde Segen verlassen, der über seinem Vater, seinem Haus, seiner Kindheit, seiner Jugend, seinem Oxford, seinen Talenten geruht hatte. Ein friedliches Glück hielt ihn gefangen. Niemals sollte er jener Region entkommen können, in der man Genüsse hat, statt zu genießen, Freuden erlebt, statt sich zu freuen, Pech hat, statt unglücklich zu sein, und in der man so leicht lebt, weil man so leer ist.
Er öffnete den Briefkasten. Es war ein Brief von Brandeis. Eine Mitteilung, daß Brandeis froh sein würde, Herrn Paul Bernheim zu den Direktoren seines Hauses zu zählen. Er braucht mich, kombinierte Paul, weil er mit einer Beziehung zu Enders rechnet. Er hält nichts von mir und meiner Kraft, die er im Brief eine wertvolle nennt. Ich soll sein Instrument sein, ganz einfach. Ich will nicht!
Er trat nicht mehr in sein Zimmer, er kehrte um, den Brief in der Hand. Aber als er wieder in der Straße stand, begann der Brief geheimnisvoll zu wirken. Die Schatten des Todes, unter denen Paul Bernheim die ganzen Tage dahingeschlichen war, zerstreute und vertrieb der Brief. Gleichgültig wie sonst ging Paul an den Bettlern und Verzweifelten vorüber. Sie waren nicht mehr seine Schicksalsgenossen. Er ging, wie er es liebte, in die Halle eines großen Hotels. Er bildete sich ein, daß es der einzige Ort war, an dem man mit Würde unglücklich sein konnte. Noch während er in den breiten, knarrenden Ledersessel glitt, war er überzeugt, daß es jetzt galt zu überlegen, Brandeis abzusagen, einen neuen Ausweg zu suchen. Aber schon als der Kellner vor ihm stand, glaubte Bernheim, daß er anfing, das Schicksal zu meistern. Ja, während er bestellte – einen Whisky-Soda, das Getränk der Sicherheit, weltmännischer Lebenskunst, angelsächsischer Tatkraft –, hatte Paul Bernheim das Gefühl, gesiegt zu haben, als bewiese der Diensteifer des Kellners die Unterwürfigkeit der Welt. In dieser Halle, in der die Reisenden reich, geschäftig und die Taschen anscheinend mit unerschöpflichen Banknoten gefüllt, herumgingen, glaubte