Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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einen leisen Schrei ausstieß. Er klang wie der Ruf eines Käuzchens. »Wer sind Sie?« fragte Theodor. »Verlassen Sie mein Zimmer!« schrie die Frau Oberrechnungsrat. Theodor zog sich zurück. Er hatte nur eine Pistole wiedersehen wollen, die aus Irrtum zurückgelassen worden war.

      Er ging zur Frau Bernheim. »Ich muß mein Zimmer wiederhaben.«

      »Wir haben kein Geld, Theodor. Es ist für ein Jahr vermietet!«

      »Ich muß mein Zimmer wiederhaben!« wiederholte er.

      »Sei gut, Theodor!« flehte die Mutter.

      Auf einmal ließ sie sich in einen Sessel fallen, schlug die Hände vors Gesicht und begann, lautlos zu schluchzen. Theodor sah ihre Schultern zucken. Eine unbekannte Gewalt trieb ihn zu seiner Mutter. Er machte einen Schritt und hielt inne. Ich könnte schwach werden! sagte er sich – und: Alle Frauen weinen, wenn sie alt sind! Er machte wieder kehrt, ging zum Fenster und sah in den Garten hinaus.

      Plötzlich wandte er sich um und fragte: »Wo werde ich schlafen?«

      »Anna wird in der Küche schlafen und du im Zimmer, wo der Kutscher gewohnt hat!«

      »Ah, so«, sagte Theodor. »Paul hättest du nie im Zimmer des Kutschers einquartiert. Es tut mir leid, daß ich nach Hause gekommen bin. Aber warte nur! Warte nur!«

      Am Nachmittag ging er zu Gustav.

      Gustav saß im Kreise seiner Familie, seiner verheirateten Schwestern, seiner drei Brüder, die alle Briefträger waren. Es roch nach festlichem Sauerkraut und frisch gebrannten Kaffeebohnen. Der Papierhändler hatte sich bereit erklärt, Gustav aufzunehmen. In einer Woche sollte Gustav angestellt werden, einen Beruf haben. »Er will nichts mehr von der Politik wissen«, sagte einer der drei Briefträger. Sie saßen alle mit aufgeknöpften Uniformröcken. Die Mützen hingen wie Drillinge an dem Kleiderrechen neben der Tür.

      »Nach einem Jahr wird er an die Hochschule kommen können. Er wird sparen. Wir werden alle sparen«, sagte ein zweiter Briefträger.

      »Unser Vater hat sich auch nie um die Politik gekümmert«, bemerkte der dritte.

      »Wir wollen nichts von der Politik wissen«, sagte die Mutter Gustavs mit einem starren Blick gegen Theodor.

      Theodor begriff, daß die Familie seines Freundes ihn nicht liebte. Jedes Wort, das man ihm sagte, hatte noch einen verborgenen gehässigen Sinn, den er nicht erriet, aber den er fürchtete. Diese kleinen Leute benahmen sich so, als hielten sie Theodor für den verantwortlichen politischen Ratgeber Gustavs. Dieser saß mitten unter seinen Brüdern und Schwestern, auf einmal unpolitisch und ihresgleichen. Der festliche Geruch aus der Küche umgab sie alle gleichmäßig und verlieh ihnen allen einen billigen, engen und sichtbaren Genuß. Theodor verstand, daß er auf einmal seinen Gesinnungsgenossen verloren hatte. Gustav hatte keine politische Gesinnung mehr. Er wollte einen ehrlichen, biederen, kleinbürgerlichen Weg machen.

      Schlechte Rasse, dachte Theodor, während seine dünne und stumpfe Nase schnupperte. Er verabschiedete sich schnell. Und als er wieder draußen war, glaubte er zu fühlen, daß die Einsamkeit, die ihm immer so gewichtlos vorgekommen war, plötzlich schwer wurde, ein drückender Körper.

      Ich werde fleißig sein, lernen, wissen, nahm er sich vor. Gustav kann meinetwegen Briefträger werden.

      Zu Hause brachte ihm die Mutter einen kurzen Brief von Paul. In ein paar Sätzen, die wie eine amtliche Benachrichtigung klangen, schrieb Paul, daß er sich mit Irmgard Enders verlobt habe.

      »Der Kerl hat Glück«, bemerkte Theodor.

      »Hoffen wir!« sagte die Mutter.

      »Ein Streber!« murmelte Theodor.

      Frau Bernheim verließ das Zimmer. Seit der Ankunft Theodors waren kaum acht Stunden vergangen. Dennoch litt sie schon unter seiner Anwesenheit. Es war wie eine ganz alte Plage. Theodor war wiedergekommen wie ein rheumatischer Schmerz, den man für ein paar Monate verloren und vergessen hatte. Ach, sie erkannte ihn, ihren Sohn. So war er immer gewesen, so würde er immer bleiben.

      Sie gab ihm einen Hausschlüssel und sagte ihm, daß er kommen und gehen könne, wann er wolle. Essen würde er in seinem Zimmer. Das Mittagessen könne man ihm zurücklassen und aufwärmen. Sie hob noch für einen Augenblick das Lorgnon. Ihre Augen besiegelten und beschlossen also, was sie verfügt hatte. Und von nun an sah sie Theodor nur, wenn er ihr zufällig in den Weg kam.

      Erst Wochen später, ein paar Tage vor Pauls Trauung, die in Berlin stattfinden sollte, richtete Theodor wieder ein Wort an seine Mutter. Er fragte sie, wann sie fahren wolle. Sie antwortete: »Ich fahre nicht. Eine arme Mutter nimmt sich nicht gut aus.«

      »Aber ich werde hinfahren«, meinte Theodor.

      »Ich dachte, du liebst deinen Bruder nicht?«

      »Aber es ist für mich eine Gelegenheit, Beziehungen anzuknüpfen.«

      Frau Bernheim dachte einige Sekunden nach. Dann sagte sie mit einer unerwartet scharfen Stimme, mit jener, die sie im Verkehr mit dem Hausmeister zu verwenden pflegte: »Ich werde Paul schreiben. Er wird dir Geld schicken, du wirst nach Berlin fahren und dort bleiben. Ich kann dich nicht mehr erhalten. Du brauchst wirklich Beziehungen. Es ist Zeit, daß du dir dein Brot verdienst. Pack deine Koffer!«

      Zum erstenmal hatte Theodor Respekt vor seiner Mutter. Sie stand vor ihm, fahl, alt, größer als er, die Linke an der Hüfte, die Rechte noch ausgestreckt in der Luft und immer noch in den Korridor weisend, wo die Koffer Theodors waren. Die Hand schien so den Befehl verewigen zu wollen. Sie verwies ihrem Sohn das Haus. Es war kein Zweifel.

      Theodor fuhr nach Berlin. Er ging in Pauls Hotel und ließ sich anmelden. Paul bat ihn, in der Halle zu warten. Theodor betrachtete sich als beleidigt und wollte wieder weggehn. Gut, sagte er sich, ganz gut. Ich werde hungern, obdachlos sein, verkommen. Meinetwegen! Aber er hatte nicht die Kraft, die Halle zu verlassen. Es war ein reiches Hotel. Dieser Kerl, dachte er, läßt mich nicht zu sich, damit ich nicht sehe, daß er eine Flucht von Zimmern bewohnt. Nun gut! Jedes »Nun gut«, das er vor sich hinflüsterte, bereitete ihm einen Trost, als hätte es irgendeinen Sinn, als drückte es irgendeine Gegenmaßnahme aus.

      Endlich kam Paul. »Tadellos elegant«, sagte Theodor statt eines Grußes. Sie reichten einander die Fingerspitzen. Dann setzten sie sich schweigsam. »Was trinkst du?« fragte Paul aus Verlegenheit. »Jedenfalls keinen Lindenblütentee!« »Whisky?« »Meinetwegen!«

      »Höre, Theodor«, begann Paul. »Du darfst mich, wenn du Lust hat, sobald wir von unserer Hochzeitsreise zurück sind, einmal im Monat besuchen. Du wirst dir einen bestimmten Tag wählen. Im übrigen ist hier die Adresse meines Rechtsanwalts. Du beziehst ein halbes Jahr fünfhundert Mark im Monat. Von morgen in sechs Wochen mußt du eine Arbeit gefunden haben. Hier ist die Adresse meines Schneiders. Du kannst dir drei Anzüge machen lassen. Zu meiner Trauung kannst du kommen. Sie wird hier stattfinden, nicht in der Kirche.«

      Dann trat eine lange Pause ein. Sie schlürften beide Whisky-Soda. Dann erhob sich Theodor, reichte seinem Bruder ein lockeres Bündel Finger und ging.

      Er ging sofort zum Rechtsanwalt.

      »Ihr Bruder läßt Sie bitten«, sagte man ihm, »Herrn Brandeis übermorgen früh zu besuchen. Herr Brandeis erwartet Sie.« Man zahlte ihm fünfhundert Mark.

      Am nächsten Tag war Pauls Trauung. Sie vollzog sich schnell, lautlos und geölt. Theodor hatte kaum Zeit gehabt, Pauls Frau zu sehn. Er sah Brandeis unter den fünf männlichen Gästen.

      »Dieser Kerl kauft jetzt ganz Deutschland auf.«

      In der Halle sah Theodor, wie Brandeis sich sofort von der Gruppe der andern Gäste löste, davonging mit einem leichten Schritt, den man seiner großen und wuchtigen Gestalt nicht zugetraut hätte.

      »Ich möchte nicht mit ihm heimisch werden«, sagte einer von den Gästen in Theodors Nähe zum andern.

      »Ja, eben ein Inflationsgewinner«, erwiderte der Angesprochene.

      Den einen kannte Theodor, es war Herr Enders. Der andere sah dem Herrn