sind die reichsten Leute im Land«, erklärte Paul. Er dachte dabei an den Geiz seiner Mutter. Er irrte sich. Was ihren Sohn betraf, gehörte in ein anderes Kapitel, berührte eine andere Leidenschaft. Zum erstenmal seit vielen Jahren konnte Frau Bernheim den Satz sagen: »Geld ist nicht alles, Paul!« – Er war überrascht.
»Es ist ein großes Glück, Mutter!« sagte Paul.
»Das kann man erst nach zehn Jahren sagen«, erwiderte sie mit einer Weisheit, die nicht aus ihr kam, der Mütterlichkeit überhaupt zu entströmen schien.
Paul versprach, seine Braut mitzubringen.
»Bring sie nur! Bring sie nur!« sagte Frau Bernheim.
Aber er brachte sie nicht, auch später nicht.
Es hatte sich inzwischen etwas Neues ereignet.
XVI
Eine Amnestie erlaubte Theodor Bernheim und seinem Freunde Gustav die Heimkehr.
Sie kamen an einem trüben Vormittag nach Deutschland, aus einem sonnigen und klaren Ungarn, in dem der Frühling schon heimisch und vertraut geworden war. Die Natur selbst war bedacht, in den Heimkehrern die Sehnsucht nach einem angenehmen Exil wachzuhalten. Gustav hatte ein braunrotes Angesicht, gesunde, sichere und schnelle Bewegungen. Er gehorchte nur einem Gebot der Schicklichkeit, indem er nach Deutschland zurückkehrte. Theodor war blaß und hastig, seine Hände waren wirr und seine Brille zerbrochen. Er empfand sie nicht als ein verdorbenes Instrument, sondern als ein beschädigtes Organ. Auf seinen schwachen Schultern lastete das ganze grausame Gewicht der Wendung: Rückkehr in die verlorene Heimat. In solch einer Lage mußte ein Mann und ein Deutscher wehmütig sein und fröhlich, bitter und gereift, voller Hoffnung und Tatkraft. Welch eine Menge von Verpflichtungen! Von Zeit zu Zeit beobachtete Theodor seine Reisegenossen, um zu sehen, ob er einen Eindruck auf sie machte. »Von all diesen Volksgenossen«, sagte er zu Gustav, »hat niemand soviel mitgemacht wie wir. Sie gehen ihren Geschäften nach, als wäre gar nichts geschehn, jeder denkt an seine Verdienste und niemand an Deutschland.«
»Quatsch nicht!« antwortete Gustav.
Theodor schwieg. Seit langem schon, seit dem Tag, an dem sie das Land verlassen hatten, haßte er seinen Kameraden Gustav. Gustav hatte ja eigentlich diese Flucht verschuldet, Gustav hatte ihn in das Verbrechen und in die Verbannung gebracht, Gustav hatte sich draußen wohl gefühlt, Gustav war gleichgültig gewesen, Gustav hatte keine Gedanken, Gustav las kein Buch, Gustav liebte kein Gespräch, Gustav lachte Theodor aus, Gustav hatte keinen Respekt vor Theodor. Wenn Theodor imstande gewesen wäre, seine Gefühle von seiner Weltanschauung zu lösen, so hätte er sich zugestehen müssen, daß ihm sein Gesinnungsgenosse mehr verhaßt war als jeder seiner politischen Feinde. Aber er mußte Begegnungen, Empfindungen, Ereignisse in einen Zusammenhang mit seiner Überzeugung bringen, mit Deutschland, mit den Juden, mit der Welt, mit inneren und äußeren Feinden, mit Europa. Infolgedessen hielt er sich in Gustavs Nähe. Aus diesem Grunde begann er immer wieder die Diskussionen, auf die Gustav die ewige Antwort »Quatsch nicht!« hatte. Wenn Gustav nicht ein Kerl wäre, sagte sich Theodor, würde ich ihn verachten. Aber da Gustav ein »Kerl« war, mußte er ihn anerkennen.
Auf dem Bahnhof verabschiedeten sie sich. Das Exil fand hier seine Grenze. Die Gemeinschaft der Gesinnung und eines Lebens in der Fremde war denn doch nicht so stark wie die Gedanken an das väterliche Heim, die plötzlich Gewalt über beide bekamen in dem Augenblick, in dem sie ihre Fahrkarten abgaben. Die Heimatstadt strömte ihnen entgegen. Sie bestand aus tausend unnennbaren, privaten Gerüchen, die nichts mit der Politik zu tun hatten, nichts mit der Nation, von der sie bewohnt war, nichts mit der Rasse ihrer Bürger. Sie bestand aus tausend unnennbaren, bestimmten Geräuschen, die, mit der Kindheit vermischt, in der Erinnerung bis zu dieser Stunde gelebt hatten, ohne sich bemerkbar zu machen, und erst jetzt auf einmal und mit Macht der Wiederholung der Gerüche, ihrer Geschwister, antworteten. Die Heimat schickte den Zurückgekehrten eine vertraute Straße nach der andern entgegen, in denen nichts Öffentliches, nichts Allgemeines vorhanden war, kein Ideal, keine Gesinnung, keine Leidenschaft, nichts als private Erinnerungen. Gustav, der Gesündere, ergab sich ihnen, vergaß, weshalb er die Heimat verlassen hatte und wieso er jetzt zurückkehrte. Theodor aber fand, daß es seiner unwürdig sei, sich im Privaten zu verlieren. Er kämpfte gegen die Erinnerungen, die Geräusche, die Gerüche. Und es gelang ihm selbst diesmal, sich als einen Faktor einer Öffentlichkeit zu fühlen, seine Rückkehr als ein nationales Gebot, seine Vaterstadt als einen blutgedüngten und versklavten Boden, und als er endlich in die Straße einbog, in der sein Haus sichtbar wurde, war er nur noch neugierig, seine Mutter zu sehn und den Kummer zu erkennen, den ihr seine lange Abwesenheit verursacht haben mochte; nur neugierig.
Sie stand an der Schwelle, um ihn zu erwarten. Sie hatte alle Szenen vergessen, alle Stunden, in denen ihre mütterliche Sorge um das mißratene Kind sich gewandelt hatte in einen feindlichen und trotzdem bekümmerten Hohn. Sie sah ihr Kind wiederkehren, nichts mehr. Die Stunde seiner Rückkehr klang sachte an die seiner Geburt an, rührte wieder an das längst entschlafene mütterliche Weh in Schoß und Herz. Sie hielt ihn umfangen, ohne ihn zu küssen. Theodors Kopf hing über die Schulter seiner Mutter. Tränen drangen ihm in die Augen, sein Herz klopfte und mit zusammengebissenen Zähnen, mit aufgerissenen Augen hinter den gesprungenen Brillengläsern bemühte er sich, »männlich« zu bleiben. Die Rührung kam ihm nicht gelegen und nicht die Liebe der Mutter. Es wäre ihm angenehmer gewesen, von seiner Mutter so kühl empfangen zu werden, wie sie ihn einmal hatte gehen lassen.
»Du bist so mager geworden«, sagte die Mutter.
»Das glaub’ ich«, meinte er, nicht ohne einen verborgenen Vorwurf in der Stimme.
»Wir haben dir zu wenig Geld geschickt!« klagte die Mutter.
»Das ist es eben!« bestätigte er.
»Mein armes Kind!« rief sie.
»Nur keine Phrasen, Mutter! Laß mich ein Bad nehmen!«
»Sag mir ein Wort, Theodor, wie hast du gelebt?«
»Wie ein Hund, in einem blöden Land, wir hatten Wanzen, ekelhaft!«
»Wanzen?!« rief Frau Bernheim.
»Und Läuse«, ergänzte Theodor wollüstig.
»Daß Gott bewahre! Theodor, du mußt sofort die Kleider wechseln.« Sie ging in die Küche. »Anna, machen Sie ein Bad, zehn Scheite genügen, aber holen Sie noch die Kohle aus dem Keller, hier ist der Schlüssel.« Seit dem Krieg hatte Frau Bernheim den Schlüssel zum Kohlenkeller nicht den Dienstboten gegeben.
Sie begleitete ihren Sohn ins Badezimmer, sie wollte ihn nicht verlassen. Sie wartete, bis er seine Kleider abgelegt hatte, und lauerte auf eine Gelegenheit, ihm zu helfen. Sie war glücklich, als sie sah, daß der Hemdsärmel Theodors zerrissen war und losgetrennt von der Schulter. »Ich will ihn dir sofort einsetzen –«, sagte sie. »Und wo sind die andern Hemden?« Mit einer Wollust wartete sie auf die Nacktheit ihres Sohnes. Es schien ihr, sie hoffte, daß sie einen körperlichen Mangel an ihm entdecken würde, der ebenso durch die Abwesenheit von zu Hause erklärt werden könnte wie der abgetrennte Hemdsärmel. Nun sah sie ihren Sohn nackt, zum erstenmal seit seiner Kindheit lag er wieder nackt vor ihr im Wasser und nur noch mit der Brille bekleidet, die er vor seiner Mutter nicht abzulegen wagte, als eine letzte Hülle.
»Wie mager bist du geworden!« sagte Frau Bernheim.
»Und krank!« ergänzte ihr Sohn.
»Wo fehlt es dir?«
»Die Lungen und das Herz!«
»Bist du wenigstens bequem gefahren?«
»Viele Juden unterwegs! Man ist nirgends allein in Deutschland!«
»Sei vernünftig, Theodor, laß die Juden in Ruh’! Deine Freunde haben dir das eingeredet.«
Nach dem Bad ging Theodor in sein Zimmer. Er machte die Tür auf. Er ahnte nicht,