Er bewunderte seine eigene Schlauheit. Kein andrer, sagte er sich, hätte Brandeis überzeugt, einen der klügsten Männer der Welt. Es galt, die eigene Klugheit zu bewundern, und so zögerte Paul nicht, auch Brandeis’ Verstand anzuerkennen. Er vergaß die Angst, mit der er zu Brandeis hinaufgestiegen war. Er vergaß, daß er die Stufen gezählt hatte. Er dachte nicht mehr daran, daß Brandeis ihn als Werkzeug brauchen könnte. Und als er den ersten Strohhalm in seinen Whisky tauchte, hatte Bernheim wieder sein altes, hochmütiges und gelangweiltes Gesicht, kokett, modern profiliert, die weichen Haare straff aus der Stirn gekämmt und die hübschen grünen Augen in die Luft und in eine siegreiche Zukunft gerichtet.
Er hatte sein eingebildetes Todesurteil wortlos ertragen. Aber den eingebildeten Sieg allein zu feiern, war er nicht imstande. Doktor König fehlte ihm. Doktor König war ein charmanter Gegner gewesen, das Ideal eines Zuhörers. Aber er war seit Monaten verschwunden, verschwunden, in diesem Berlin, das er sicherlich nicht verlassen hatte und in dem ein Mensch versinken konnte wie im Sand der Wüste. Paul Bernheim beschloß wieder, Sandor Tekely aufzusuchen. Schließlich war die Begegnung mit Tekely segensreich gewesen. Er ging in das ungarische Restaurant.
Tekelys ständiger Platz lag hinter einem Paravent, aber gegenüber dem Spiegel, der das Bild des Eingangs und des Büfetts gefangenhielt, ein aufmerksamer Spiegel. Tekely hatte aus Angst vor Gläubigern, die ihn auch im Restaurant aufzusuchen liebten, diesen Platz gewählt. Er behielt ihn aus Dankbarkeit, obwohl er keinen mehr zu fürchten hatte, und aus Pietät, wie sie ein amerikanischer Milliardär manchmal für die alten Plätze haben mag, auf denen er sich in seinen Anfängen als Zeitungshändler aufgehalten hat. So konnte Tekely den eintretenden Paul Bernheim sofort sehen. Tekely erhob sich und ging dem Gast entgegen, er hatte in diesem Restaurant die Freiheit eines Hausherrn. »Darf man gratulieren?« Als hätte er seit Tagen hier auf den Eintritt Bernheims gewartet, um diese Frage zu stellen.
»Noch nicht heute!«
»Ah, ich weiß, Sie wollen die Antwort Brandeis’ abwarten.«
»Ich habe sie zwar schon –«, sagte Paul Bernheim, und es tat ihm leid, daß er zu Tekely gekommen war. Ja, es war frech von diesem Tekely, alles zu wissen. Er ließ Bernheim nicht das Vergnügen, langsam zu erzählen. Doktor König wäre anders gewesen. Und um bald vergessen zu dürfen, daß eigentlich Tekely ein gewisses Verdienst an den glücklichen Fügungen nicht abzusprechen war, sagte Bernheim schnell:
»Wenn ich Sie nicht damals zufällig getroffen hätte – ich bin Ihnen eigentlich dankbar!«
»Oh, das war kein Zufall«, antwortete Tekely, der Undankbarkeit vorausahnte, »Sie haben mich ja mit Absicht aufgesucht! Ich wollte Sie bitten, wenn Sie nächstens mit Herrn Brandeis zufällig von der Warenhauszeitung sprechen sollten – von der ich Ihnen zuletzt erzählt habe, so erwähnen Sie mich.«
»Ja, ja!« versprach Bernheim schnell und sah auf die Uhr, um einen frühen Abschied vorzubereiten.
»Sie müssen jetzt gehn«, sagte Tekely, der wußte, daß man einen eiligen Menschen nicht zurückhalten darf, wenn man seine Freundschaft nicht verlieren will. »Aber vergessen Sie bestimmt nicht!«
»Nein!« sagte Bernheim verwirrt und ging.
Er hatte wieder das peinliche Gefühl, einem Stärkeren erlegen zu sein, er begann, eine Abhängigkeit von diesem Tekely zu fürchten. Er war unzufrieden wie immer, wenn er ohnmächtig eine unangenehme, eine erniedrigende Szene mitzuspielen gezwungen wurde. Wie oft geschah es ihm eigentlich! Zum Glück vergaß er sie schnell. Er behielt nur die Stunden in treuer Erinnerung, in denen er eine glänzende Rolle gespielt hatte, er besaß die Fähigkeit, über peinliche Situationen in einer so zauberhaften Weise nachzudenken, daß sie nach einigen Tagen eine etwas ungenaue, aber fröhliche Physiognomie aufwiesen. Das einzige schreckliche Erlebnis, das er nie vergessen konnte, war jenes mit dem Kosaken im Krieg, das immer wieder auftauchte, sobald er ein neues Zeugnis seiner Schwäche lieferte, wie eine alte Wunde immer wieder aufbrechen kann, wenn man sich weh tut. Auch jetzt, als er Tekely verließ, dachte er an Nikita. Einen Augenblick verlor er sich in der bangen Vorstellung, daß jener Nikita niemals aufhörte, daß er verschiedene Gestalten annahm, daß er identisch mit Tekely war, identisch mit Brandeis selbst und vielleicht auch mit Herrn Enders, dem Onkel Irmgards.
Paul suchte nach einem Rezept gegen diese Vorstellung. Er kannte aus Erfahrung verschiedene Mittel gegen bedrückende Gedanken, wie ein Kranker, der allerhand schon gegen schmerzliche Anfälle ausprobiert hat. Er stieg in ein Auto, fuhr nach Hause, packte flüchtig seinen Handkoffer und begab sich zur Bahn. Er gratulierte sich selbst zu diesem Einfall, der ihn vor einer schlaflosen Nacht rettete. Er wollte zur Mutter.
Frau Bernheim erschrak, als sie Paul zu früher Morgenstunde ankommen sah. Sie stand in der Küche und sah zu, wie das Mädchen Frühstück kochte. Paul erinnerte sich, daß sie früher, zu Lebzeiten des Vaters, das Frühstück im Bett genommen hatte. Sie saß aufgerichtet, vier Polster im Rücken, unter dem blaßblauen Baldachin und spielte ihre »königliche Haltung«. Ein breites Tablett reichte ihr bis zur Brust, die hinter einem Gewölk aus Spitzen verborgen war. In dem halbdunklen Zimmer, in das die Morgensonne durch die Gitter der Rouleaus in schmalen, starken Streifen einfiel, schwebte ein zarter Geruch von Kölnischem Wasser und Zitronen. Die Erinnerung an diese Morgenstunden war herzbrechend wie die an ein verlorenes Glück. Jetzt stand die Mutter in einem Schlafrock aus braunem Plüsch, der vorn offen war und über dem Frau Bernheim, um ihn geschlossen zu halten, die Arme verschränken mußte. Seit dem Kriege, seitdem sie angefangen hatte zu sparen, beaufsichtigte sie jeden Morgen das Dienstmädchen, damit es nicht zuviel Kaffee verbrauche.
»Nehmen Sie noch einen Löffel Kaffee, Anna, aber keinen Eßlöffel!« rief sie, als Paul kam. Sie freute sich immerhin mitten im Schrecken über die unerwartete Ankunft, daß ihr Sohn nicht eine halbe Stunde später gekommen war. Man hätte sonst noch einmal das Gas anzünden müssen.
Man sah zwei graue Haarsträhnen über ihren beiden Schläfen wie zwei Ströme von Sorgen und wie zwei Heerstraßen des Alters. Im weißen Licht der Küche, das von den schimmernden Kacheln einen erbarmungslosen harten und kalten Glanz bekam, war das Angesicht der Frau Bernheim fahl und zerfallen, als könnte man die einzelnen Partien auseinandernehmen, das starke, viereckige Kinn von den Lippen lösen, die Nase von den Wangen, die Stirn von dem übrigen Teil des Kopfes. Die ergrauenden Augenbrauen schienen älter zu sein als die Haare, als stammten sie aus einer früheren Zeit, und die Augen, in denen noch die alte Schönheit wohnte, ohne Zweck und nur ein geduldeter Mieter, lagen zwischen angeschwellten Wülstchen aus Tränen und Schlaf. Die Stimme seiner Mutter erschien Paul Bernheim um einige Grade zu hell, er hatte eine sanftere in der Erinnerung gehabt, als wäre der frühe Morgen eigentlich der Grund ihrer spröden Helligkeit und als käme diese von dem harten Schimmer der Kacheln. Kalt, wie hinter einer Glasscheibe, brannte bläulich die Flamme unter dem Topf auf dem Gasherd. Paul entsann sich nicht, jemals zu dieser Morgenstunde in der Küche gewesen zu sein. Es war eine kleine Enthüllung. Es war, als wäre er der Vergrämtheit des Hauses auf die Spur gekommen, als kenne er jetzt die Quelle des Kummers, die Küche.
Die Frau Militär-Oberrechnungsrat kam später, viel später. Sie stützte sich auf einen Stock am Morgen, sie gewöhnte sich langsam an das Gehen, an die Bewegung, die der Tag notwendig machte, nach der Bewegungslosigkeit der Nacht. Die ganze Last ihres alten Körpers trug der Stock, die Beine folgten ihm nur, unterstützten ihn. Sie erschien Paul als die Verkörperung der Trauer, die über sein väterliches Haus gefallen war. Er begann, sich vor ihr zu fürchten.
Er nahm sein Frühstück in großer Hast und ging in die Stadt. Er wollte erst am Nachmittag wiederkommen. Es erschien ihm unmöglich, dem ganzen Betrieb des Vormittags beizuwohnen. Während er gedankenlos, müde, überwach durch die noch leeren Straßen ging, fiel es ihm ein, daß seine Mutter an diesem Tag sterben könnte. Er stellte sich die tote Mutter vor und fühlte keine Trauer. Er versuchte, sich seine Gleichgültigkeit zu erklären, und ertappte sich bei dem Wunsch, seine Mutter tot zu wissen. Unmöglich, sie mit Irmgard zusammenzubringen. Unmöglich, Irmgard in dieses Haus zu führen.
Er kam spät am Nachmittag zurück. Er kündigte seiner Mutter die Verlobung an, seine bevorstehende Verlobung mit Irmgard Enders.
»Enders?« sagte die Mutter und hob das