sich selbständig zu machen.
Daß jeder Mensch eine besondere Schwäche besitzt, wußte Krutzinger; und seit wenigen Stunden, daß die besondere Schwäche Mizzis eine gewisse romantische Vorliebe für Geistesgegenwart war.
Krutzinger schätzte diese Eigenschaft nicht: Geistesgegenwart begründe nur den paraten gesunden Menschenverstand, pflegte er zu sagen, obgleich sie zweifellos jedem besseren Berufsmenschen sehr schätzenswert sein dürfe; aber wen eine Situation wortlos mache, der sei wahrscheinlich ein feinerer Kopf, als wer sie blitzend zu beherrschen meine.
Krutzinger lernte nun zwar nicht um, aber er hielt diese Fähigkeit nicht länger in stolzer Verachtung bei sich zurück, sondern zeigte sie auf eine Weise, die ihm nicht nur bald den Ruf eines außerordentlich geistreichen und interessanten Menschen eintrug, sondern auch die restlose Gunst Mizzis.
Das kam so: Während eines Spazierganges mit Mizzi durch die Wiedener Hauptstraße hatte Krutzinger absichtslos erzählt, wie er vor einem Jahr seinen Onkel Poldi Schleier vor einem furchtbaren Debâcle gerettet hatte. Als er mit Onkel Poldi, der unter dem Namen Klinger mit einem Fräulein aus Berlin-Rixdorf in einem kleinen Hotel logierte, eines Nachmittags im Vestibül saß, war ein Kellner an den Tisch getreten und hatte mit lauter Stimme gemeldet: »Herr Schleier wird am Telephon verlangt.« Sekundenlang hatten sie einander verzweifelt angestarrt, bis schließlich Krutzinger, dessen Name im Hotel unbekannt war, wortlos aufsprang und ans Telephon lief, wo er einer Dame, die sich nachher als Onkel Poldis Schwägerin herausstellte, mitteilte, daß ein Herr Schleier nicht im Hotel wohne.
Über die Veränderung, die diese Geschichte auf dem sonst ziemlich unbewegten Gesicht Mizzis hervorbrachte, war Krutzinger sehr erstaunt gewesen. Ihre vollen roten Lippen hatten sich sonderbar schwermütig verzogen, die Augen waren gleichsam aufgeglüht und hatten ihn schwärmerisch betrachtet.
Diese unerwartete Wirkung beschäftigte Krutzinger lange und intensiv, bis er in der auf dieses Ereignis folgenden Nacht plötzlich langsam das Bett verließ, sich auf einen Stuhl setzte und beschloß, von nun an bei jeder Gelegenheit Geistesgegenwart zu entwickeln.
Da sich während der nächsten Woche keine Gelegenheiten einstellten, zögerte er nicht länger, solche einfach herbeizuführen. Er verschmähte diesmal die Hinzuziehung von Büchern und Freunden, versteckte sich in der Ecke seines Stamm-Cafés hinter eine Zeitung und grübelte stundenlang.
Schon sein erster Coup war meisterlich.
Er führte Mizzi an einem trüben Herbstabend, der eine sehr schwarze Nacht versprach, in die Währinger Volksoper, überdies zu einer Aufführung des ›Freischütz‹, und auf dem Heimweg durch die schmale menschenleere dunkle Pflanzergasse. Hier begann er, der ohnehin sehr wortkarg gewesen war, völlig zu schweigen, jedoch lauter aufzutreten, als wollte er den düsteren Eindruck des Weges verscheuchen. Ein flüchtiger Blick in Mizzis Gesicht ließ ihn denn auch eine bereits vorgeschrittene Unruhe agnoszieren.
Plötzlich tauchte vor ihnen aus einer Seitengasse ein Mann auf, der langsam vor ihnen herging.
Krutzinger wies Mizzi schweigend, mit einer Kopfbewegung, auf den unheimlichen Spaziergänger hin.
Mizzi erschauerte.
Der Mann ging immer langsamer: kein Zweifel, er wollte die beiden herankommen lassen.
Krutzinger zeigte sich vorsichtig aufs äußerste bestürzt, verlangsamte den Schritt und ergriff Mizzis Arm, der sofort erzitterte.
Mit einem Mal aber warf er sein Haupt rückwärts, flüsterte: »Na warte, Bürscherl! Kommen Sie, Mizzi!« und ging rascher.
Er wußte es so einzurichten, daß er kurz vor einer Laterne dem unheimlichen Menschen nahe kam.
In dem Augenblick, als sein riesenlanger Schatten bis zu den Knien über jenen Mann hinausfiel, nahm Krutzinger die Hand vom Rücken und senkte sie, indem er sie zur Faust ballte und nur Zeige-und Mittelfinger steif wegstreckte.
Der Mann zuckte zusammen, zögerte ein paar Sekunden, rannte dann aber in den Schatten der Häuser und verschwand. Er hatte Krutzingers Zeige-und Mittelfinger für einen Revolver lauf gehalten.
Mizzi preßte Krutzingers Arm fest an sich. Sie atmete hörbar.
Als sie endlich auf die Währinger Straße kamen, sagte sie leise: »Auf was für Ideen Sie kommen, Rudi!« und sah ihm tief in die Augen.
Krutzinger schloß selig, aber auch mit unsäglicher Befriedigung die Lider: der unheimliche Mensch hatte ihn zwanzig Kronen gekostet und drei Stunden, während welcher er, ununterbrochen redend, ein hartnäckiges Mißtrauen hatte vernichten müssen.
Zwei Tage später ging Krutzinger mit Mizzi zu Dehmel. Als man eben aufbrechen wollte, stellte Krutzinger ärgerlich fest, daß er kein Geld bei sich habe. Mizzi Öffnete lächelnd ihr Handtäschchen. Das Portemonnaie fand sich jedoch nicht vor. Krutzinger hatte es kurz vorher herausgenommen. Was tun! Nach kurzem verkniffenen Überlegen zwang er Mizzi, stehend den Kellner zu erwarten. Nachdem dieser drei Kronen achtzig Heller verlangt hatte, trat ihm Krutzinger gewaltig auf den Fuß. Der Mann schrie fast. Krutzinger entschuldigte sich herzlich und bemühte sich noch herzlicher um den Wankenden, dem er, als er von Schmerz und Schreck einigermaßen sich erholt hatte, auf die Schulter klopfte und herablassend sagte: »Ich gab Ihnen fünf Kronen. Behalten Sie den Rest als Schmerzensgeld. Auf Wiederschaun!«
Auf der Straße betrachtete ihn Mizzi bereits mit unverhohlener Bewunderung. Er war für sie nicht viel weniger als ein erstklassiger Abenteurer.
Inzwischen aber hatte sich Krutzinger tatsächlich verändert. Er war nicht nur mutig geworden, sondern auch frech, und zwar derart, daß auch dazu Mut gehörte.
So rief er einmal einem Bekannten, der Mizzi schüchtern begrüßte, laut zu: »Mensch, nimm dich wieder mit nach Hause und laß dich nie mehr allein herumlaufen!«; einem bekannten Maler, der, Mizzi zeichnend, im Café am Tisch gegenübersaß: »Das Brautkleid seiner Mutter um den Hals zu trafen, finde ich lieblos!«; dem ›Ober‹: »Eigentlich sehen Sie aus wie die Nachgeburt von Ihrem Bruder!«; und einem alten, sehr beliebten, aber gänzlich glatzköpfigen Schauspieler über drei Tische hinweg: »Kerl, setz doch den Hut auf! Wie kann man nur seinen Unterleib so nackt herumlaufen lassen!«
Ohne Krutzingers vorhergegangene Heldentaten hätte Mizzi wahrscheinlich schon nach der ersten dieser Frechheiten sich entrüstet gezeigt; jetzt sah sie in diesen Äußerungen den Ausdruck einer starken, hemmungslosen, kurz in jeder Hinsicht überlegenen Persönlichkeit.
Krutzinger, seiner Sache nunmehr völlig sicher, hätte sich ohne weiteres zum Sturm anschicken können. Von allen Seiten aber als gefürchtet mit besonderem Respekt behandelt und mit Elogen bedacht, wollte er die holde Vorbereitungszeit so lange wie möglich ausgenießen.
Eines Abends aber, als er bei Mizzi erschien, hatte er, die Folgen nicht bedenkend, ein blondes Frauenhaar angelegt. Es fiel diskret von der Schulter in die Rocktasche und war dem Stubenmädchen seiner Eltern ausgerissen worden.
Kaum hatte Mizzi dieses Haar erblickt, als sie es mit einem Ausruf der höchsten Überraschung ablöste, gegen den Luster hielt und teils schlecht versteckt-erbost, teils noch schlechter arrangiert-schelmisch um den Finger wickelte: »Ei, ei, Herr Rudi hat blonde Damenbekanntschaften.«
Worauf Krutzinger ein wenig betreten tat, dann aber folgendes präparierte Märchen erzählte: er sei in der vergangenen Nacht Zeuge der Mißhandlung eines jungen Mädchens durch einen betrunkenen Studenten gewesen, hätte sich des Mädchens angenommen und, da es ohne Wohnung gewesen sei und sich weigerte, in ein Hotel zu gehen, zu sich geführt. Das wäre alles gewesen.
»Aber das Haar auf der Schulter? He?« rief Mizzi gereizt.
»Ach, sie weinte sehr. Ich konnte sie doch nicht fortstoßen!«
»Sie haben sie geküßt, Rudi.« Mizzi leckte, schnell atmend, ihre vollen Lippen.
Krutzinger wandte und drehte sich sehr geschickt. »Nein. Sie mich.«
»Und dann? Was geschah dann?«
»Nichts weiter. Ich wollte