Johanna Spyri

Gesammelte Werke von Johanna Spyri


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gekommen«, antwortete Lippo, sachte weitertrippelnd mit seiner zerbrechlichen Last.

      »Das bin ich, Wächter der Ordnung«, lachte Kurt, an dem Kleinen vorbei der Wohnstube zurennend.

      Nun konnte Kurt wieder lachen.

      »Oh, seid ihr schon an dem«, rief er erstaunt aus, als sich hier alle anschickten, sich zu Tisch zu setzen. »Wie schade, ich hätte dir so gern noch etwas gesagt, Mutter!«

      Sie schaute ihn fragend an. Lange hatte er nicht mehr seine dringenden Mitteilungen an sie zu machen gehabt, lange auch hatte sie die helle Stimme und die fröhlichen Augen bei ihm nicht mehr gesehen, wie sie jetzt wieder da waren.

      »Nach Tisch, Kurt«, sagte sie freundlich, »du kommst auch so spät heute?«

      »Ja, ich habe zuerst so ein wenig geschlendert«, berichtete Kurt, »und dann kam mir das Loneli nachgelaufen und hatte mir etwas zu erklären, das es herausgefunden hatte. Ich habe schon manchmal gesagt, das Loneli ist das gescheiteste Kind im ganzen Flecken Nollagrund und dazu noch das allerfreundlichste und gefälligste und dienstfertigste, das überhaupt zu finden ist. Und wenn es auch nur von einer einfachen Apollonie erzogen ist, so ist es inwendig viel feiner, als eine andere, die sich auswendig mit den schönsten Bändern und Blumen aufputzt, und ich wollte lieber ein einziges Loneli, als tausend Elviren!«

      Lippo hatte schon lange beunruhigt nach Kurts Teller geblickt.

      »Da kommen schon die Bohnen herein, und du hast noch deinen ganzen Teller voll Suppe«, sagte er jetzt in Aufregung.

      »Ich finde auch, Kurt, du tätest besser, nun an deine Suppe zu gehen, als solche Ungeheuerlichkeiten auszudenken. Wir sind ja ohnedies alle deiner Ansicht, dass Loneli ein besonders nettes und ein feinfühlendes Kind ist.«

      »Gelt, Kurt«, fiel das beobachtende Mäzli ein, »weil du gestern und vorgestern und vorvorgestern so wenig geredet hast, darum musst du heute auf einmal so viel zusammenreden?«

      »Gerade darum, du findiges Mäzli«, sagte Kurt lachend, und da nun alles wieder rüstig vor sich ging bei ihm, hatte er auch seine Suppe in kürzester Zeit bewältigt.

      Erst nach der Schule, als die grösseren Geschwister an ihren Beschäftigungen sassen und die jüngeren einen Gang zur Apollonie unternommen hatten, konnte Kurt die Mutter ganz allein für sich gewinnen. Sie hatte verstanden, dass er gründlich mit ihr sprechen wollte, und hatte darum diese ruhige Abendstunde abgewartet. Jetzt machte Kurt ein ehrliches Bekenntnis seines Ungehorsams und suchte nicht mehr seine Tat damit zu rechtfertigen, dass er vorbrachte, er hätte ja nur der Mutter helfen wollen, den Aberglauben auszurotten. Nun konnte er auch ohne Rückhalt der Mutter sagen, wie schrecklich es ihn alle diese Tage gedrückt hatte, dass er nicht mit ihr sprechen konnte, weil er etwas auf dem Herzen hatte, das er nicht bekennen wollte. Einmal, weil er sich so sehr des kläglichen Ausgangs seiner Unternehmung schämte, und dann auch, weil er befürchtete, die Mutter würde ihm doch nun bestimmt wiederholen, es gebe keinen Geist von Wildenstein, und er hatte doch die ganze unerklärliche Erscheinung gesehen. Nun hatte Loneli etwas erzählt, das war ihm wie eine Erlösung, so musste ja die Mutter wissen, wie jene schreckliche Erscheinung aussah, und begreifen, dass er nicht glauben konnte, das könne ein Mensch sein.

      »Aber gelt, Mutterchen, nun bist du nicht bös auf mich, dass ich das getan habe«, bat Kurt jetzt herzlich, »ich will gewiss nie mehr so etwas tun, wenn ich weiss, du willst es nicht; ich weiss nun schon, wie es peinigt. Ich wusste wohl, dass es die Strafe war, weil ich diese Sache angestiftet hatte, die dir nicht recht war.«

      Nun die Mutter sah, dass Kurt sein Unrecht erkannte und die Strafe dafür demütig angenommen hatte, sagte sie ihm auch nichts Strafendes mehr. Was Loneli ihm von dem gepanzerten Ritter mitgeteilt hatte, bestätigte sie alles. Auch war sie ganz überzeugt, dass der überall wachsame Herr Trius längst entdeckt hatte, was Kurt mit seinen Freunden auszuführen gedachte, und dass er mit jener schreckhaften Erscheinung sie strafen und für immer verscheuchen wollte.

      »Nicht wahr, Kurt«, schloss die Mutter, »darauf kann ich mich nun verlassen, dass du in Zukunft in keiner Weise mehr mit dieser Fabel vom Geist von Wildenstein etwas zu tun haben willst.«

      Das konnte Kurt ehrlich versprechen; er hatte genug bekommen von seinem Versuch, den Geist wegzubeweisen. Dass dieser für ihn selbst nun wirklich abgetan und alles Unbegreifliche der Erscheinung aufgeklärt war, und besonders, dass Kurt wieder ohne alle Hemmung mit seiner Mutter verkehren konnte, machte ihn so glücklich, dass er mit einem lauten Freudengesang nach der Stube zu den Geschwistern zurückkehrte.

      Frau Maxa war auch erfreut, dass ihr Kurt sich wieder zurechtgefunden und wieder seine wohltuende Fröhlichkeit erlangt hatte. Was aber jetzt an ihr Ohr drang, war nicht mehr Kurts Gesang, das war ein entschiedenes Freudengeschrei. Sie öffnete die Tür, und nun schallte der bekannte Jubelruf: »Onkel Phipp! Onkel Phipp!« zu ihr herüber. So musste ja der ersehnte Bruder in der Nähe sein. Richtig, da führten die zwei Jüngsten, die auf ihrem Heimgang den Onkel getroffen hatten, ihn mit Freudenlärm herbei, und die drei Älteren schrien mit nicht weniger kräftigen Lungen dem Onkel ihr Willkommen zu.

      »Wie froh bin ich, dass du endlich kommst«, rief Frau Maxa dem Bruder entgegen, »sei willkommen! Tritt doch herein, Phipp!«

      »Sobald es mir möglich wird«, erwiderte er keuchend, und zunächst war es wirklich nicht möglich für ihn; denn - an jeder Hand ein Kind und drei zwischen den Füssen, die ihn alle noch stürmisch bewillkommneten, konnte er unmöglich vorwärts kommen.

      Nach und nach bewegte sich dann der ganze Knäuel ins Haus hinein und dem Lehnstuhl des Onkels zu, in den er von zehn hilfreichen Händen festgesetzt wurde, damit er sobald nicht wieder entweiche.

      »Ihr Schelme!« rief Onkel Phipp erschöpft aus, »wer bei euch mit dem Leben davonkommt, der kann schon von Glück sagen. Lippo, willst du deinen Paten erwürgen? Wer wird denn zwei dicke, viel zu kurze Arme um den Hals seines Paten schlingen! Du bist wohl hinten auf meinen Stuhl geklettert und hältst deinen Fuss auf der Lehne; glitscht der aus, so bin ich erdrosselt. Wer kann dann wissen, für wen eine Mundharmonika bestimmt war, die in den Tiefen meiner Rocktasche sitzt und die wundervollsten Melodien von sich gibt, die man ihr zu entlocken versteht?«

      Eine Mundharmonika war das Herrlichste, was Lippo kannte. Sein Nachbar auf der Schulbank, des Pfeifertonis Toneli, besass eine solche und konnte ganze Lieder darauf blasen, und das war so wundervoll! Wenn die Harmonika für ihn bestimmt wäre! Lippo liess schnell los.

      Mit beiden Händen fuhr jetzt Onkel Phipp in seine tiefen Taschen.

      Wirklich, da wurde der lange bewunderte und für sich so stark ersehnte Gegenstand herausgezogen. Aber wieviel grösser und schöner sah er aus, als Tonelis kleines Instrument, was musste diese Harmonika für Töne von sich geben können! Jetzt hielt Lippo den Schatz in der Hand, er konnte es nicht glauben; aber Onkel Phipp hatte wirklich gesagt: »Da nimm sie, für dich war die Harmonika bestimmt.«

      Auch für die anderen entstiegen allerlei neue Herrlichkeiten den Tiefen der Taschen, und eins der Kinder nach dem andern rannte davon, um seinen Schatz der Mutter zu zeigen. Lippo sah und hörte nichts mehr. In gespannter Erwartung der Melodien, die da ertönen würden, stand er da und entlockte seinem Instrument ganz ohrzerreissende Jammertöne.

      »Ja, Lippo, das muss man erst ein wenig lernen, alles muss gelernt sein. Komm, gib her«, sagte Onkel Phipp, »siehst du, so macht man’s.« Jetzt setzte er das Instrument an seinen Mund und fuhr hin und her damit, und nun gab es so lustige Weisen und Klänge von sich, dass Lippo in sprachloser Bewunderung zu seinem Paten aufschaute. Onkel Phipp konnte also alles, auch sogar Harmonika blasen, was doch sonst nur die Buben konnten. Und wie tat er es! Solche Töne konnte gewiss kein anderer Mensch mehr hervorbringen.

      Lippo wurde in seiner staunenden Bewunderung gestört durch die lärmende Rückkehr der Geschwister, die den Onkel zum Abendbrot abholten, und nun wurde er inmitten der Schar wie ein Kriegsgefangener unter Siegesgeschrei zu Tisch gebracht.

      Die Mutter hatte absichtlich die Zeit des Abendessens etwas früher angesetzt als gewöhnlich. Sie konnte merken, dass der Bruder damit einverstanden war. Wenn aber Onkel Phipp im Sinne hatte, heute die