Jetzt vorwärts!«
Voller Übermut und Unternehmungslust zog die Gesellschaft aus. Zu fürchten gab es nichts. Der Geist war abgetan, das hatte Kurt ja bestimmt angezeigt. Und nun hinzugehen und dem Abgetanen das so recht laut vorzusingen und dann die Tat überall zu verkünden, das war ein Hauptspass: Immer rascher ging es vorwärts, nicht die Hälfte der gewohnten Zeit nahm der Weg in Anspruch. Es wurde dunkel; aber nun trat der Mond aus den Wolken und leuchtete fröhlich über die Felder.
Jetzt war die hintere Seite des Schlossbergs erreicht, man stürmte die Höhe hinan. Nun ging es in den Föhrenwald hinein. Er war nicht sehr gross; aber die Bäume standen dicht aneinander. Es war recht dunkel hier, dazu ging der Mond wieder hinter die Wolken. Die laute Schar wurde stiller, immer stiller. Da und dort schlich einer auf die Seite und kam nicht wieder zum Vorschein. Drei der Mädchen flüsterten eine Weile geheimnisvoll miteinander, dann waren sie verschwunden. Die vorderen schauten nicht zurück, sie liefen den vordersten nach; hinter ihnen knisterte es so sonderbar im Gesträuch. Ganz vorn war Kurt mit Lux und dessen unternehmender Schwester Clevi.
Wie es so still wurde, kehrte sich Kurt um.
»Kommt doch nach, wo seid ihr denn alle?« rief er zurück.
»Wir kommen ja«, entgegneten drei Stimmen, es waren die Zunächstfolgenden, Marx, Hans und Simi, dann kamen Stöffe und Rudi noch nachgelaufen, dann kam nichts mehr. Die vordersten hielten an.
»Wo ist denn der ganze Trupp?« fragte Kurt. »Wir wollen warten, dass sie nachkommen, oben müssen wir alle zusammensein.« Es kam niemand mehr nach. Auf Kurts Rufen kam keine Antwort, nur eine Eule heulte ein wenig.
»Die sind fort, die haben sich sicher gefürchtet«, sagte Marx, »am Anfang vom Walde waren wir noch alle beisammen.«
»Ihr Feiglinge, ihr«, rief das erboste Clevi, »sich vor den Bäumen zu fürchten, das ist auch lustig.«
»Wir werden uns wohl nicht fürchten, sonst wären wir nicht mehr da. Ruf doch denen nach, die nicht mehr da sind«, rief der Marx zurück.
»Kommt, kommt, vorwärts!« befahl Kurt, »wir sind doch noch acht, wir singen dann um so lauter.«
Nun ging’s rasch weiter. Jetzt wurde das Wäldchen lichter, man musste dem Ausgang nahe sein. Richtig, dort schaute einer der alten grauen Türme durch die Bäume, man war dem Schloss nahegekommen.
»Hier wird haltgemacht; wir treten nicht aus dem Wald heraus«, sagte Kurt. »Der Geist von Wildenstein kann zu uns herankommen, wenn er auf der Terrasse spazierengeht. Jetzt angestimmt.«
Kurt begann, und alle stimmten mit vollen Kräften ein:
»Heraus du Geist von Wildenstein,
Denn wir sind keine Hasen;
Wir kommen heut im Mondenschein,
Ein Liedlein dir zu blasen.
Heraus, heraus! Wir freu’n uns sehr,
Denn fürchten tut dich keiner mehr!«
Jetzt war’s wieder still, ringsum ganz still, nur oben in den alten Föhren säuselte der Nachtwind. Zwischen den Bäumen durch konnte man nach der Terrasse hinübersehen. Der Mondschein lag hell darauf; still und leer lag der ganze Platz vor dem Schlosse.
»Wir müssen noch einmal singen, er hat uns nicht gehört«, sagte Kurt, »wenn er diesmal keine Antwort gibt, so werden wir ihm sagen, was wir wissen. Mit ungeheurer Macht wird dann der Schlusschor gesungen:
Hurra, hurra! Stimmt alle ein,
Es gibt keinen Geist von Wildenstein!
Also noch einmal angefangen.«
Jetzt sang das stimmbegabte Clevi eifrig los: »Heraus, du Geist von Wildenstein -»
Und die Buben fielen donnernd ein: »Denn wir sind keine Hasen -»
»Was kommt denn dort zu Vorschein? Was könnte das sein?« Kurt starrte nach der Terrasse.
Mit langsamen Schritten kam über die Terrasse eine so hohe Gestalt herangewandelt, dass es kein Mensch sein konnte; aber es war kein Baum, es bewegte sich ja ganz langsam, es kam wirklich dem Walde zu. Sah er denn auch wirklich recht, oder war es der Mondschein, der nur einen beweglichen Schatten warf?
In diesem Augenblick machte plötzlich der grosse Marx kehrt und stürzte davon, alle vier anderen ihm nach im Galopp. Nur Lux und Clevi standen noch fest neben Kurt.
Die schreckliche Gestalt kam näher und näher. Jetzt fiel der helle Mondschein auf den Wandelnden. - Er war gepanzert, das war deutlich zu erkennen; der Panzer glänzte im Mondlicht, wie der hohe Helm mit dem wehenden Federbusch. Ein langer Mantel hing von den Schultern zu den hohen Reiterstiefeln herab und verhüllte zur Hälfte die ungeheure Gestalt. Konnte das ein Mensch sein? Nein, unmöglich, so schreckhaft gross konnte kein lebender Mensch sein. Stumm, gemessenen Schrittes kam er jetzt gerade auf die alten Föhren zu, unter denen die drei lautlos staunenden Sänger standen.
Plötzlich stürzte Lux zwischen den Bäumen durch und flog wie ein Rasender den Waldhang hinab. Clevi schaute noch einmal mit weit aufgerissenen Augen den langsam Herannahenden an; so recht sehen, wie er aussah, wollte es doch gern, dann stürzte es dem Bruder nach.
Nun stand Kurt allein, und der Schreckliche kam wirklich heran. Mit einem furchtbaren Sprung flog Kurt auf die Seite, aus dem Wäldchen heraus, den Weisen zu, jagte den Berg hinab, setzte über die Hecke, dann noch über eine und stürzte weiter, bis er am Garten des heimatlichen Hauses stand, wo ihm aus der Wohnstube ein friedlicher Lichtschimmer entgegenblickte.
Jetzt atmete er tief auf und lief hinein. Die Mutter kam ihm unter der Tür entgegen.
»Ah, du bist’s, Kurt«, sagte sie freundlich, »ein wenig spät kommst du doch. War denn der Mondschein gar so schön, dass ihr euch so schwer davon trennen konntet? Oder gefiel euch das nächtliche Jagen sonst so gut? Aber du bist ja noch ganz ausser Atem, Kurt! Komm, setz dich noch einen Augenblick zu mir nieder, dann gehst du zu Bett, die anderen sind soeben dahin verschwunden.«
Was dem Kurt sonst da liebste war, sich so allein zur Mutter hinzusetzen und ihre ganze Aufmerksamkeit für sich und seine Mitteilungen zu haben, das konnte er jetzt nicht geniessen. Die Mutter könnte ja weiter nach seinem Spaziergang fragen, was sollte er dann sagen? Er wollte lieber gleich zu Bette gehen, sagte er, und die Mutter begriff es gut, dass er nach so atemlosem Laufe gern zur Ruhe ging. Erst jetzt, da Kurt ruhig und sicher in seinem Bette lag, konnte er nachdenken über das, was sich ereignet und wie er sich dabei benommen hatte.
Es gab ja doch keinen Geist, der da umherwanderte, das hatte doch die Mutter so bestimmt gesagt. Wen hatte er denn da oben in Panzer und Helm und langem Reitermantel gesehen? Herr Trius war es jedenfalls nicht; denn der kurze, dicke Mensch und der baumhohe Nachtwanderer konnten nicht dieselbe Person sein. Aber konnte denn nicht eine Wache oben umhergehen müssen? Vielleicht hatten die alten Schlossherren von jeher gewollt, dass die Wache so gepanzert einhergehe. Wenn er doch nur nicht so fortgelaufen wäre! Er hätte ja ganz gut die Wache herankommen lassen können und dann erklären, was er zu tun im Sinne gehabt hätte. Die Beseitigung des alten Aberglaubens hätte ja dem Wachestehenden nur gefallen können. Hätte er doch so gehandelt!
Jetzt, da Kurt so sicher unter der Decke lag und Bruno neben ihm so laute, seine Nähe verkündende Atemzüge zog, fand es Kurt so leicht, in solcher Weise zu handeln; hätte er es doch nur getan. Nur das eine war ihm doch unbegreiflich: wie konnte ein wirklicher Mensch so erschreckend gross sein? Es war doch fast unmöglich; zuinnerst fühlte Kurt ganz deutlich, es war wirklich unmöglich.
»Wenn ich doch nur mit der Mutter darüber sprechen könnte!« seufzte er bei sich; aber er musste sich ja so schrecklich schämen. Die Mutter hatte ihm so bestimmt gesagt, sie wolle nicht, dass er sich mit dieser Sache abgebe, und wenn er ja auch nur erreichen wollte, dass der Aberglaube vertilgt werde, so hatte er doch ihren Worten zuwider gehandelt, und was hatte er nun erreicht? Erst recht würde morgen das ganze Dorf davon voll sein, der Geist von Wildenstein gehe wieder um, und er wusste gar nicht, was er dagegen sagen sollte. Wenn nur die furchtbare Grösse nicht gewesen wäre!
Als