Sie tröstete mich dann und sagte, der liebe Gott könne in jedem Unglück helfen. Da habe ich lange Zeit immer vor dem Einschlafen gebetet: ‘Lieber Gott, hilf ihnen doch im Unglück!’ Die beiden waren auch immer so lieb und freundlich mit mir. Ich kam viel aufs Schloss, die Frau Baron Maximiliana von Wallerstätten war meine Patin. Mein Vater unterrichtete die zwei Söhne und war auch sonst in allen Dingen der Helfer und Ratgeber der Frau Baron. Jeden Morgen wanderte er zum Schloss hinauf, auf der einen Seite meinen Bruder, euern Onkel Phipp, an der anderen mich an der Hand führend. Mein Bruder nahm den Unterricht gemeinsam mit den beiden Söhnen droben, die nur ein Jahr auseinander waren, Phipp war gerade zwischen den beiden im Alter. Bruno war der ältere -«
»Nach dem heiss ich, nicht wahr, Mutter?« schaltete Bruno hier ein.
»Salo war ein Jahr jünger -«
»Nach dem heiss ich«, sagte Mea schnell. »Nicht wahr, Mutter, weil du gern einen Salo gehabt hättest und ich kein Junge war, musste ich Salomea heissen?«
Die Mutter nickte bejahend.
»Und ich heisse wie mein Vater!« rief Kurt, um daran zu erinnern, dass sein Name auch von guter Abstammung war.
»Ich kam mit aufs Schloss«, fuhr die Mutter fort, »weil meine Frau Patin es wünschte. Sie hätte gern selbst ein Töchterchen gehabt, und nun gab sie sich so liebenswürdig mit mir ab, als gehörte ich zu ihr. Sie lehrte mich schöne Sachen sticken, feine Arbeiten machen, dann ging sie mit mir im Garten umher und durch das ganze Gut, ich musste alle Blumen und alle Bäume kennen lernen. Dann durfte ich wieder gehen und alle die duftenden Veilchen holen, die unter den Hecken am Gut und am Rande des Wäldchens so reichlich zwischen den grünen Gräsern hervorguckten. Oh, es waren herrliche Tage, und sie sollten noch schöner werden.
Ein tiefer Eindruck aus diesen frühen Zeiten ist mir lange im Herzen geblieben und hat mich manchmal in diesen schönen Tagen erschreckt, wie eine drohende Gewalt, so dass ich eine ganze Weile lang nicht mehr froh sein konnte. Mein Vater war eines Tages so schweigsam, als er vom Schloss herunterkam, dass die Mutter ihn fragte, ob droben etwas vorgefallen sei. Er antwortete, wie ich ihn jetzt noch hören kann: ‘Dieser junge Bruno von Wallerstätten hat den ganzen Jähzorn seines Ahnherrn geerbt. Nicht umsonst fürchtet sich seine Mutter davor mehr, als vor jedem anderen Unheil’.
»Siehe oben«, sagte Kurt trocken, einen Blick nach dem oberen Teile des Tisches werfend, wo Bruno neben der Mutter sass. Ein drohender Blick aus Brunos Augen war die Antwort.
»Erzähl doch schnell weiter, Mutter«, drängte Mea, die keineswegs gesinnt war, die Geschichte durch eine Fehde der Brüder unterbrochen zu sehen.
»Es war mir so schrecklich«, fuhr die Mutter wieder fort, »dass dieser gute, grossmütige Bruno, der für mich nie andere als freundliche Worte hatte und mich bei jeder Gelegenheit mit Guttaten überhäufte, etwas in seinem Wesen haben sollte, vor dem seine Mutter sich fürchten musste. Oft ging ich ganz still in einen Winkel und weinte leise darüber, dass so etwas sein konnte. Dass es wirklich so war, musste ich auch bald selbst erkennen; denn wenn die drei Jungen einmal uneinig wurden, oder sonst jemand tat, was Bruno missfiel, so konnte er ganz ausser sich geraten und tun, was ihm gewiss nachher selbst leid war. Denn das muss ich wiederholen, er war eine so edle und grossmütige Natur, er wollte gewiss keinem Menschen unrecht tun, und etwas Gemeines hätte er nie getan. Aber zu Gewalttaten konnte sein furchtbarer Zorn ihn hinreissen.
Sein Bruder Salo wurde nie so zornig, aber er gab dem wenig älteren Bruder auch niemals nach. Er hatte seinen Eigenwillen und hartnäckiges Festhalten an seinem Recht so gut wie der Bruder. Dazu hatte er bei allen Uneinigkeiten meinen Bruder Philipp auf seiner Seite; denn die beiden waren grosse Freunde. Bruno war viel zurückhaltender und verschlossener als sein Bruder. Auch hatte dieser eine viel fröhlicherer Natur; er sang und lachte durch die Hallen, dass es oft von allen Gewölben widerhallte. Auch die Frau Baron konnte so herzlich lachen. Darum meinte Bruno, die Mutter liebe den Jüngeren mehr als ihn, und er liebte seine Mutter sehr und konnte den Gedanken nicht ertragen. Aber das war nicht so, die Frau Baron liebte ihren Ältesten besonders, das konnten alle sehen, die ihr nahe standen.
Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder Philipp fünfzehn und die Söhne auf dem Schloss also etwas älter und etwas jünger als er, da trat in unseren Kreis eine so liebliche und ungewohnte Erscheinung, dass wir gleich alle von ihr entzückt waren, ich gewiss am meisten. Aber auch unsere Freunde auf dem Schlosse, sogar mein Bruder Phipp, der gar nicht leicht von Begeisterung erfasst wurde, alle drei waren begeistert von unserer neuen Spielgenossin. Sie war ein Mädchen von elf Jahren, nur ein Jahr älter als ich; aber wie überragte sie mich in ihrem Wissen und Können, in ihrem Benehmen, in ihrem ganzen Wesen, ich war völlig hingerissen von ihrer ganzen Erscheinung.
Leonore hiess sie. Sie war eine Verwandte der Frau Baron und kam vom hohen Norden herunter aus Holstein. Dort war auch meine Frau Patin geboren und hatte alle ihre Verwandten dort. Leonore war die Tochter einer solchen Verwandten. Sie hatte früh ihren Vater verloren, und da vor kurzer Zeit nun auch ihre Mutter gestorben war, hatte die Frau Baron den Entschluss gefasst, das Mädchen zu sich zu nehmen, da es sonst ganz allein gestanden hätte und auch, wie sie sagte, weil eine sanfte Schwester zwischen den zwei eigenwilligen Brüdern einen wohltuenden Einfluss auf beide ausüben müsste. Für mich fing eine Zeit an, so schön, wie ich sie mir nie hätte ausdenken können. Die mancherlei Unterrichtsstunden, die Leonore schon genommen hatte, sollten fortgesetzt und noch neue begonnen werden. Die Frau Baron hatte wohl schon vorher dafür gesorgt; denn bald nach Leonores Ankunft erschien ein feines Fräulein auf dem Schlosse, auch eine Deutsche, eine vorzügliche Lehrerin, was mir aber erst lange nachher ins Bewusstsein getreten ist.
Meine Frau Patin hatte angeordnet, dass ich alle Unterrichtsstunden mit Leonore teilen, daher die ganzen Tage auf dem Schlosse zubringen und nur je am Abend heimkehren sollte. So brachten wir unsere Tage unzertrennlich zusammen hin und oft noch die langen Abende bis in die Nacht hinein; denn bei schlechtem Wetter liess meine gütige Frau Patin mich am Abend nicht nach Hause zurückkehren. Leonore hatte einen unumschränkten Einfluss auch mich, und das war zu meinem Besten. Überall konnte ich zu ihr aufschauen, ihrem edlen Wesen war alles Niedrige und Gemeine völlig fremd. Der nahe Umgang mit ihr war nicht nur der schönste Genuss meiner Kinder- und Jugendjahre; er hat mir einen Gewinn für mein ganzes Leben gebracht.«
»Ja, du hast es gut gehabt, Mutter«, brach Mea hier leidenschaftlich los.
»Und Onkel Phipp auch mit zwei solchen Freunden«, setzte Bruno hinzu.
»Ja, ich weiss wohl«, sagte die Mutter. »Ach Kinder, wie oft habe ich sehnlich gewünscht, dass euch solche Freunde zuteil werden möchten.«
»Weiter, Mutter, weiter«, bat Kurt ungeduldig, »wo sind sie denn alle hingekommen? Man weiss ja gar nichts mehr von ihnen.«
»In allen Freistunden, die unsere Brüder hatten, wie wir sie nannten«, nahm die Mutter die Erzählung wieder auf, »waren sie unsere liebsten Spielgenossen. Wir schätzten ihre anregende Gesellschaft sehr und freuten uns immer herzlich, wenn durch irgendein Ereignis eine ihrer zahlreichen Unterrichtsstunden ausfiel und sie uns mit Freudenlärm herbeiholten; denn sie wollten uns auch gern bei ihren Spielen haben, das konnten wir wohl bemerken. Die Frau Baron hatte auch richtig vorausgesehen: seit Leonore unter uns war, kamen die Fehden zwischen den Brüdern gar nicht mehr so häufig vor, und wer den Bruno recht kannte, konnte wohl bemerken, wie er in ihrer Gegenwart seine Zornesausbrüche unterdrückte. Er hatte wohl gesehen, wie Leonore vor Schrecken totenblass geworden war, als sie einmal einem solchen Ausbruch beigewohnt hatte.
Gegen vier Jahre waren uns so in wolkenlosem, sonnigem Glück dahingegangen; da trat eine grosse Veränderung für uns alle ein. Die jungen Barone hatten das Schloss verlassen, um in Deutschland höhere Lehranstalten zu besuchen. Mein Bruder Phipp wurde auf eine landwirtschaftliche Schule gebracht. Von nun an sahen wir die Brüder nur noch einmal im Jahre, im Sommer, wenn sie für eine für uns kurze Ferienzeit nach Hause kamen. Das waren dann lauter Festtage, die vom ersten Morgenlicht bis in alle Nacht hinein ausgenossen wurden, alle mit Musik beginnend und mit Musik endend, oft in Musik vollständig aufgehend.
Die beiden Wallerstätten waren durch und durch musikalisch und hatten herrlich Stimmen. Leonores Gesang bewegte aller Herzen.