nicht sprechen wollte, oder selbst wenig von seinem Herrn wusste. Und nun ist alles zu Ende erzählt, und ihr zieht euch so schnell als möglich zurück; denn die richtige Zeit dazu ist längst überschritten.«
Nun half kein Fragen und kein Bitten mehr, und bald war alles still im Haus. Nur leise ging die Mutter noch einmal durch die Schlafzimmer der Kinder. Da lag ihr Ältester, der so schrecklich zürnen konnte, jetzt mit heller Stirn und friedlichem Ausdruck vor ihr. Er war ja ein so ehrenhafter Junge; aber wenn die unglückliche Anlage immer mehr Macht in ihm gewinnen sollte, wie musste es dann kommen? Bald vielleicht musste sie ihn ganz von ihrer Seite lassen, und von wem in der fremden Umgebung durfte sie ein liebevolles Verständnis für ihn erwarten, was allein ihn zur Beruhigung brachte? Es lag ja nicht in ihrer Macht, ihre Kinder vor Leid und Schuld zu bewahren; aber Frau Maxa kannte die Hand, die alle Kinder führt und festhält, die ihr übergeben werden, die sie schützt und rettet, wo keine Mutterhand und keine Mutterliebe mehr mächtig ist. Sie faltete ihre Hände und ging so, von einem Bett zu anderen, ihre Kinder alle dem Schutze ihres Vaters im Himmel zu übergeben, der ja am besten wusste, wie nötig sie seine Hilfe hatten.
Eine unerwartete Erscheinung
Kurt hatte am anderen Tag soviel vor, dass er schon am Morgen auf dem Weg zur Schule davonrannte, als habe er keine Minute zu verlieren. Mea und Lippo, die mit ihm auf die Strasse getreten waren, schauten mit Erstaunen seinen ungewöhnlich hohen Sprüngen nach. Als er beim Schulhaus angekommen war, sah er eben von der anderen Seite das Loneli mit gesenktem Kopf und gar nicht in seiner gewohnten Weise, in lustigem Aufhüpfen, herankommen.
»Was hast du, Loneli?« fragte Kurt, als es nahe kam, »warum hast du denn schon verweinte Augen, noch ehe es nur acht Uhr geschlagen hat? Sei du nur fröhlich, ich will dir helfen. Wer hat dir etwas zuleide getan?«
»Niemand, aber ich kann nicht mehr fröhlich sein«, und Loneli hatte schon wieder Tränen in den Augen. »Du solltest nur wissen, wie die Grossmutter ist, seit ich auf der Schandbank sass; nicht nur bös, das wäre mir noch gleich; denn dann ist sie immer bald wieder gut; aber ganz traurig ist sie, und am Morgen, wenn ich in die Schule will, ist es am ärgsten, und sie sagt, ich hätte über sie und über mich eine Schande gebracht, die ihr das Haar grau mache. Ihr ganzes Leben lang sei ihr die Ehrenhaftigkeit über alles gegangen, und sie habe auf dem Schlosse bei den hochachtbarsten Herrschaften wohnen dürfen, und jetzt dürfe jeder ihr sagen, sie habe ihr Tochterkind zur Schandbank erzogen, und die Schande bleibe nun unser Leben lang auf uns sitzen, auf ihr und auf mir.« Jetzt brach das Loneli erst recht in Tränen aus; denn die ganze, nie mehr endende Schmach, die es über sich und die Grossmutter gebracht hatte, kam ihm samt den nie mehr endenden Vorwürfen der Grossmutter ganz erdrückend vor.
»Nein, nein, du brauchst gar nicht so zu weinen, das ist gar nicht so, wie es die Grossmutter aufnimmt«, sagte Kurt tröstend, »ich will schon nächstens kommen und es ihr erklären, sei du nur wieder fröhlich, das kommt schon in Ordnung.«
»Glaubst du?« fuhr Loneli in freudiger Überraschung auf, und seine Augen waren schon wieder hell; denn was Kurt sagte, stand bei ihm fest. Er schoss nun zu der lärmenden Schar hinüber, die drüben stand; denn er hatte Wichtiges mit den Versammelten zu besprechen. Es kam Kurt sehr zustatten, dass er so zahlreiche Freundschaften geschlossen hatte; denn seine Pläne waren öfter derart, dass er zu Ausführung derselben einer grösseren Zahl von Anhängern bedurfte. Zwei grosse Unternehmungen hatte Kurt für heute im Kopf. Da galt es nun, die Genossen zur Ausführung anzuwerben, und Kurt erklärte nun mit Mund und Händen sein Vorhaben so eifrig, dass die ersten Schläge der Turmglocke, die acht rief, ganz überhört wurden. Beim letzten aber fuhr die Versammlung plötzlich auseinander wie eine Schar aufgeschreckter Vögel und stürzte dem Schulhause zu. Kurt war heute wieder zuerst daheim. Mit einem grossen Bogen Papier trat er vor die Mutter hin
»Sieh, Mutter, nun hat der Herr Trius sein Lied bekommen. Gestern abend hat er noch vier meiner Freunde mit seinem Stock bedroht, sie konnten sich aber gerade noch retten. Es ist, als habe er vier Augen und vier Ohren, die in alle Ecken sehen und hören. Nun habe ich sein Lied fertig gemacht, ich will dir’s vorlesen.«
»Ich wollte viel lieber, du hättest keine Freunde, die Herr Trius mit dem Stock zu bedrohen Ursache hat«, sagte die Mutter, »ich will nur hoffen, dass du niemals in eine solche Lage kommst.«
»Er kann aber auch Unschuldige bedrohen«, meinte Kurt, »hör nur zu, es ist die wahrhafte Beschreibung dieses Menschen:
Das Lied auf Herrn Trius, den Prügler.
Herr Trius lebt von alters her
Und ist ein Mann von Stolz,
Und wen er trifft, den prügelt er
Mit seinem Stock von Holz.
Herr Trius wandelt fest einher
In seinem gelben Rock,
Doch alle Kinder rennen sehr,
Seh’n sie den dicken Stock.
Herr Trius mit dem Zipfelhut
Geht um und um und schweigt,
Und wenn er keinen prügeln tut,
Ist’s, weil sich keiner zeigt.
Herr Trius denkt: Es ist zum Heil
Für jeden Bubenkopf,
Bald haut er mit dem Vorderteil,!
Bald haut er mit dem Knopf.
Herr Trius macht ein scharf Gesicht,
Bringt er den Stock in Gang,
Und stirbt Herr Trius vorher nicht,
So prügelt er noch lang.«
Eines kleinen Lächelns hatte die Mutter während der Vorlesung sich nicht enthalten können, jetzt aber sagte sie ernsthaft: »Das Lied soll aber nicht etwa Herrn Trius in die Hände gespielt werden; er könnte es vielleicht nicht als Scherz aufnehmen, und beleidigen darfst du ihn nicht. Überhaupt rate ich dir, Kurt, den Herrn Trius in keiner Weise herauszufordern; er könnte dir auf eine Art antworten, die du nicht erwartest. Der Herr hat seine eigenen Mittel und Wege, sich die Leute vom Hals zu schaffen.« Kurt wollte gern noch die Erlaubnis von der Mutter haben, heute abend mit seinen Freunden ein wenig im Mondschein herumlaufen zu dürfen, was die Mutter bewilligte. »Es wird ja doch keiner der berüchtigten Apfelstreifzüge sein, an dem du teilnehmen möchtest«, setzte sie bedingend hinzu. Aber Kurt versicherte ein wenig empört, dass er doch so etwas nicht tun würde. Jetzt wurde er aber von Lippo auf die Seite gedrängt, der schon seit einigen Minuten alle Anstrengungen gemacht hatte, um Kurt ein wenig seitwärts zu schieben und an die Mutter heranzukommen. Jetzt war es gelungen, Kurt räumte sogar das Feld nun völlig.
»Der Herr Pfarrer lässt dich grüssen, und ob du ihm eine Antwort geben wolltest, und hier ist ein Brief«, berichtete Lippo.
»Woher bringst du den Brief?« fragte die Mutter.
»Ich habe nicht den Brief gebracht, die Lise aus dem Pfarrhaus hat ihn gebracht«, berichtete Lippo. »Aber vor der Haustür hat die Lise mich gesehen und gesagt, ich solle den Brief mit hinaufnehmen und dir geben und ihr dann sagen, ob du dem Herrn Pfarrer auch eine Antwort geben wolltest oder nicht.«
»So, das ist wirklich eine genaue Berichterstattung«, sagte die Mutter lächelnd; »siehst du, Mäzli, ich wollte, du könntest ein klein wenig von Lippo lernen, wie du berichten solltest, so hätte ich weniger Mühe, zu unterscheiden, was du erlebt und was du dir vorgestellt hast.«
Mäzli, das eben sein Strickgarn in einen unauflöslichen Knäuel verwirrt hatte, war sehr froh, aus der Mutter Worten die Aufforderung zu einer neuen Tätigkeit zu vernehmen. Es warf eilig das verworrene Strickzeug weg, sprang vom Stühlchen auf und wiederholte sehr sicher die Rede. »Ich habe nicht den Brief gebracht, die Lise aus dem Pfarrhaus -«
»Nein, nein, so meine ich es nicht«, unterbrach die Mutter, »ich meine deine eigenen Berichte, Mäzli, die du mir zu