Johanna Spyri

Gesammelte Werke von Johanna Spyri


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So ging es mir auch; aber man hätte sie immerfort mögen singen hören. Ich hatte eben mein siebzehntes, Leonore ihr achtzehntes Jahr zurückgelegt, als wir einem Sommer entgegengingen, der grosse Entscheidungen bringen sollte. Mein Bruder Phipp wurde nicht erwartet, er stand schon seit dem vergangenen Sommer in einer Verwalterstelle auf einem Gute im Norden, das die Frau Baron kannte und für ihn ausgefunden hatte. Die jungen von Wallerstätten hatten nun auch ihre Studien beendet, und ihre Mutter sah voraus, dass sie sich bei ihrem Besuch über ihre Pläne für die Zukunft aussprechen würden. Sie meinte, vielleicht wollten sie nun noch alle beide reisen, wünschte aber, einer von ihnen hätte den häuslichen Sinn, heimkehren zu wollen, so dass sie alle Mühe und Sorgen um das Schlossgut auf seine Schultern legen könnte. Die Brüder mussten sich bald nach ihrer Ankunft in einer Weise gegen die Mutter ausgesprochen haben, die sie beunruhigte. Sie ging schweigend und geängstigt umher und wich allen unseren Fragen aus. Bruno lief mit flammenden Blicken stundenlang auf der Schlossterrasse hin und her und sprach kein Wort. Nur mit Salo konnten wir noch verkehren. Er setzte sich zwar zu uns; aber wenn wir ihn fragten, was denn vorgehe, blieb auch er stumm. Es war gar nicht wie sonst, wenn die Brüder heimgekehrt waren; aber der peinliche Zustand währte nicht lang. Am fünften oder sechsten Tag nach ihrer Ankunft erschienen die beiden nicht zum Frühstück. Die Frau Baron lief gleich in höchster Unruhe nachzufragen, ob sie das Schloss verlassen hätten, ob jemand gesehen, wohin sie sich gewendet hätten. Niemand wusste etwas von ihnen; nur Apollonie hatte sie früh am Morgen gesehen, wie sie miteinander die Treppen hinaufstiegen. Sie wurde nach den Turmzimmern hinaufgeschickt, fand diese aber leer. Aus eigenem Antrieb öffnete dann Apollonie den alten Fechtsaal. Hier sass, an die Steinwand gelehnt, Salo halb ohnmächtig auf dem Boden. Er sagte, es sei nichts, er habe nur einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Sie musste ihm aber aufstehen helfen, und auf ihren Arm gestützt kam er herunter. Er blutete aus einer Kopfwunde. Die Frau Baron sprach kein Wort. Sie begleitete den Sohn nach seinem Zimmer und blieb bei ihm, bis der gerufene Arzt erschienen war und sich wieder entfernt hatte. Dann kehrte sie zu uns zurück, setzte sich zu Leonore und mir hin und sagte, wir müssten nun auch wissen, was sich ereignet habe. Sie war anscheinend ganz ruhig, aber so blass, wie ich sie nie gesehen hatte. Sie erzählte uns, die Söhne hätten nie miteinander über ihre Zukunftspläne gesprochen, und als nun die Mutter sie darüber befragte, habe jeder erklärt, sein Entschluss stehe seit Jahren fest, nach Beendigung seiner Studien wollte er heimkehren, um mit der Mutter und Leonore auf Wildenstein zu leben. Die Entdeckung, dass Salo denselben Entschluss gefasst hatte wie er und daran festhalten wollte, brachte den Bruno ausser sich. Er forderte seinen Bruder auf, die Waffen entscheiden zu lassen, welcher von ihnen beiden in der Heimat bleiben solle; denn nebeneinander hätten sie da nicht mehr Platz. Salo war bald verwundet hingefallen und hatte das Bewusstsein verloren. Bruno, wohl Schlimmeres befürchtend, war verschwunden. Der Arzt hatte Salos Wunden nicht so sehr gefährlich gefunden, doch sollte alle Vorsicht angewandt werden, da er zarter Natur war. Als ich an dem Tage das Schloss verliess, hatte ich das Gefühl, es sei alles zertrümmert, was ich als Glück und Freude auf Erden gekannt hatte, und noch lange blieb mir dieses Gefühl. Bald nach dem traurigen Ereignis rüstete die Frau Baron sich zu einer Reise. Sie wollte mit Salo und Leonore den Winter im Süden zubringen. Salo hatte sich nicht so schnell erholt, als man gehofft hatte, und Leonore war, anstatt in unserer Höhenluft kräftiger zu werden, nur immer zarter und schmächtiger geworden. Von dem Sohne Bruno hatte die Mutter einmal Nachricht erhalten. Er schrieb in kurzen Worten, sie solle sich nicht um ihn ängstigen, er reise fürs erste nach Spanien. Dass der Bruder lebte, hatte er in Erfahrung gebracht. Nun waren sie alle, die ich lieb gehabt hatte, fortgereist, und zum ersten Male sah ich das Schloss so traurig und leblos dort oben stehen und nicht mehr mit funkelnden Augen allabendlich zu uns ins Tal niederschauen. Seine Augen waren geschlossen und blieben es.«

      »Oh, oh! Kamen sie nie mehr zurück?« rief Kurt im höchsten Bedauern aus.

      »Nie wieder«, entgegnete die Mutter. »In diesem Augenblick war es denn, dass plötzlich das, wie wir glaubten, längst erloschene Gerücht wieder auftauchte, der Geist von Wildenstein gehe um im Schloss, und der und jener wollte ihn gehört und andere ihn gesehen haben, und bis auf den heutigen Tag spukt der Geist von Wildenstein in den Köpfen der Leute.«

      »Siehe unten, kann nun hier angewandt werden«, sagte Bruno trocken, nach dem unteren Ende des Tisches blickend, wo Kurt sass. »Erzähl doch fertig, Mutter«, bat dieser eilig, »wo sind sie denn alle hingekommen. Und der verschwundene Bruder?«

      »Was ich noch zu erzählen habe, ist kurz und traurig«, sagte die Mutter. »Leonore schrieb mir getreulich. Nachdem der erste Winter im Süden zugebracht worden, zeigte es sich, dass die Gesundheit der Frau Baron erschüttert war. Sie wünschte nicht, auf das Schloss zurückzukehren. Sie sandte ihre Anordnungen an Apollonie, die sich mit dem Schlossgärtner verheiratet hatte und mit ihm das Schloss hütete. Drei Jahre nachher starb die Frau Baron, ohne je wieder heimgekehrt zu sein. Kurze Zeit vorher war Leonore Salos Frau geworden. Nicht lange sollten die beiden zusammenbleiben, nicht viel mehr als drei Jahre, da starb Salo an einem hitzigen Fieber, und Leonore folgte ihm wenige Monate nachher, ein ganz kleines Mädchen und einen auch noch kleinen Jungen zurücklassend. Eine Tante aus Holstein war nach Nizza gekommen, wo Leonore nach dem Tode ihres Mannes ganz alleinstand, und hatte dann die Kinder mit sich nach Holstein genommen. Diese letzte Nachricht hörte ich durch die Apollonie, der von jener Tante die letzten Anordnungen der Leonore zugesandt worden waren. Von diesen Kindern habe ich nie mehr etwas gehört. Von dem verschwundenen Bruder habe ich durch Apollonie einmal noch Nachricht erhalten. Der junge Pfarrer Bergmann, euer seliger Vater, hatte mich um dieselbe Zeit, da die Nachricht vom Tode der Frau Baron kam, in sein Pfarrhaus nach Sils im Tal geholt, wohin ich ihm um so lieber folgte, als mein Bruder Phipp sich soeben dort ein Gut gekauft hatte und mich auch gern in seiner Nähe haben wollte. Dorthin nun kam eines Tages Apollonie in grosser Aufregung, um mir von einem Ereignis zu berichten, von dem sie ganz erfüllt war: nach wohl acht Jahren Abwesenheit, ohne je ein Wort von sich hören zu lassen, war plötzlich Baron Bruno auf dem Schloss angekommen mit einem Begleiter, der sich Herr Demetrius nannte. Der Baron glaubte, auf dem Schlosse Mutter und Bruder und die einstige Spielgenossin zu finden. Als er von Apollonie alles vernahm, was sich seit seiner Entfernung zugetragen hatte, brach er in einen furchtbaren Zorn aus; denn er glaubte, man habe ihm absichtlich keine Nachrichten zukommen lassen. Apollonie konnte ihm zwar aus den Briefen der Frau Baron beweisen, dass sie immer alle ihre Anordnungen im Hinblick auf die Rückkehr des ältesten Sohnes gab, dem sie auch, wie sie schrieb, immer wieder Nachrichten zu senden versuche, freilich ohne eine Antwort zu erhalten. Bei dem unsteten Leben, das Baron Bruno führte, hatten ihn keine Briefe erreicht, obschon er behauptete, auf den Posten der Hauptstädte dafür gesorgt zu haben, dass er gefunden werde. Erzürnt und verbittert, hatte der Baron gleich wieder das Schloss verlassen, und bis auf die heutige Stunde weiss man nichts mehr von ihm. Der Herr Demetrius, Herr Trius, wie er nachher von jedermann genannt wurde, kam vor einigen Jahren allein in das leere Schloss zurück. Apollonie hatte unterdessen ihren Mann verloren, hatte alle Räume des Schlosses zugemacht und die frühere Gärtnerwohnung bezogen, das Häuschen, wo sie noch jetzt wohnt. Von der Zeit an, da er wieder erschienen war, bis heute, führt dieser Herr Trius ein abgeschlossenes Leben dort oben und verkehrt mit keinem Menschen, als etwa mit Apollonie, und auch mit ihr nur, wenn er sie durchaus nötig hat. Von seinem Herrn gab er durchaus keine Nachricht, Apollonie konnte sich darum bemühen, wie sie wollte. Nun wisst ihr, wie mein Jugendleben mit dem Schlosse zusammenhing und könnt begreifen, dass es mich nach dem Tode eueres Vaters vor dem Jahr wieder hierherzog, um so mehr, als ein naher Bekannter meines Vaters ihm als Pfarrer hier gefolgt war. Von diesem wusste ich auch, er würde meinem Bruno noch für einige Jahre den Unterricht erteilen, den er in den Landschulen nicht mehr fand, so dass ich ihn dann noch zu Hause behalten könnte. Nun wisst ihr auch, warum, trotz des traurigen Anblickes des verlassenen Schlosses, es mich immer wieder dorthinauf zieht, um nach der Stätte so vieler schöner Erinnerungen hinüberzuschauen.«

      »Erzähl doch noch ein wenig weiter, Mutter«, bat Kurt dringend, als diese sich jetzt erhob.

      »O ja, bitte Mutter«, stimmte Mea ein, »erzähl noch etwas von deiner Freundin Leonore!«

      »Ja, erzähl doch weiter, Mutter«, bat nun auch Bruno. »Man sollte noch vieles wissen. Ist denn der Baron Bruno immer in Spanien herumgereist?«

      »Ich glaube meistens, so bestimmt kann