Johanna Spyri

Gesammelte Werke von Johanna Spyri


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Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig, und—oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."

      Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"

      "O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?"

      Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.

      "Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.

      Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt

       etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi

       begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es

       las:

       "Die güldne Sonne Voll

       Freud und Wonne

       Bringt unsern Grenzen

       Mit ihrem Glänzen

       Ein herzerquickendes, liebliches Licht.

      Mein Haupt und Glieder

       Die lagen darnieder;

       Aber nun steh ich,

       Bin munter und fröhlich,

       Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

      Mein Auge schauet,

       Was Gott gebauet

       Zu seinen Ehren,

       Und uns zu lehren,

       Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.

      Und wo die Frommen

       Dann sollen hinkommen,

       Wenn sie mit Frieden

       Von hinnen geschieden

       Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.

      Alles vergehet,

       Gott aber stehet

       Ohn alles Wanken,

       Seine Gedanken,

       Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.

      Sein Heil und Gnaden

       Die nehmen nicht Schaden,

       Heilen im Herzen,

       Die tödlichen Schmerzen,

       Halten uns zeitlich und ewig gesund.

      Kreuz und Elende—

       Das nimmt ein Ende,

       Nach Meeresbrausen

       Und Windessausen

       Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

      Freude die Fülle

       Und selige Stille

       Darf ich erwarten

       Im himmlischen Garten,

       Dahin sind meine Gedanken gericht'."

      Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:

      'Kreuz und Elende

       Das nimmt ein Ende'—"

      Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und

       Verlangen:

      "Kreuz und Elende—

       Das nimmt ein Ende,

       Nach Meeresbrausen

       Und Windessausen

       Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

      Freude die Fülle

       Und selige Stille

       Darf ich erwarten

       Im himmlischen Garten,

       Dahin sind meine Gedanken gericht'."

      "O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!"

      Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen himmlischen Garten hinein.

      Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste, was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt, Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"

      "Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."

      Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr lang Brot holen dafür."

      Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst."

      "Und wenn's einer doch täte?",