Johanna Spyri

Gesammelte Werke von Johanna Spyri


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ungewohnt war— , dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.

      Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.

      Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein könne.

      Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater werde diesem alles erklären.

      "Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann, "und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür aufmachen wollte; versteht Er das?"

      "Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geistererscheinung.

      "Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.

      Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit.

      Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.

      Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das

       Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"

      Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm 'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"

      Heidi blickte verwundert zu ihm auf.

      "Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun, heut gehst du heim, jetzt gleich."

      "Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt.

      "Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann lächelnd.

      "O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.

      "Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken und hernach in den Wagen und fort."

      Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustür stehen werde.

      "Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht essen, begreiflicherweise.—Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.

      Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.

      "Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"

      Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne, weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: "Der Wagen ist bereit!"—da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig—auch das alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.

      Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.

      "Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches