Anne Beverley schnell die Schuldige und bedienten damit das alte Bild des Anti-Momism. Vivienne Westwood, Modedesignerin der Pistols und Liebhaberin McLarens, warf Beverley vor, ihren Sohn zu sehr verwöhnt zu haben. »Immer wenn Sid Ärger bekam, stützte sie die Lügen, die dazu dienen sollten, ihm aus der Patsche zu helfen, und am Ende glaubten sie dann beide an diese Lügen oder taten voreinander zumindest so, als täten sie es. Vor seiner Mutter Heroin zu nehmen, hatte für ihn etwas von ›Schau her, Mutter, ich spiele mit dem Tod! Was wirst du dagegen unternehmen?‹«
Der Traum McLarens, aus dem Mörder einen Superstar zu machen, ähnelte unheimlich einem seiner älteren Schwindel aus der Zeit, als er noch ein reiner Boutiquebesitzer war. Die Idee war, wie er den New Music News berichtete, »aus dem Vergewaltiger von Cambridge einen Popstar zu machen. Ich ging davon aus, dass sie, wenn sie diesen Typen schnappen, die Sache auf die Titelseiten bringen, ihn zur größten Gefahr für unsere Gesellschaft erklären und zum Sündenbock machen werden. Also dachte ich mir, toll, warum bringe ich ihn nicht mit Brian Epstein und den Beatles in Verbindung? Also druckte ich diese Maske, die er trug, auf ein T-Shirt, schrieb ›Cambridge Rapist‹ in Popstar-Schrift drüber, platzierte ein kleines Bild von Brian Epstein drunter und schrieb ein paar Worte dazu, dass er sich nicht selbst umgebracht hätte, sondern beim Praktizieren von SM gestorben sei.« McLaren konzipierte dieses anstößige Shirt als Geschenk für gelangweilte 15-jährige Teenager – wenn auch vermutlich nicht für die Mädchen, die tatsächlich mit der alltäglichen Bedrohung durch den Vergewaltiger von Cambridge leben mussten. »Ich denke, diese Ideen haben die Kids wirklich bestärkt. Sie fanden sie ein bisschen schockierend und das war das einzig Wichtige daran … ein paar Leute zu verärgern, weil sie so träge waren.«
Als Sid Vicious dann an einer Überdosis starb, verlor McLaren endgültig die Kontrolle über das, was von den Sex Pistols noch übrig war, und ging desillusioniert nach Paris, um dort Pornofilme zu machen. Ungefähr ein Jahr später tauchte er mit einem neuen Konzept wieder auf, das seine Frauenfeindlichkeit weniger verschleierte als je zuvor und klare Parallelen zum gescheiterten Slits-Projekt aufwies: Bow Wow Wow. Sängerin dieser Gruppe war das 14-jährige anglo-burmesische Schulmädchen Annabella Lwin. McLaren behauptete, sie in einem Londoner Waschsalon entdeckt zu haben. Bow Wow Wow wurden für ihn zum Vehikel für ein frisches Post-Punk-Ethos der »neuen Wildheit«, das Raubkopien auf Tapes, burundische Rhythmen, verwegene Kleidung und Stammesmode kombinierte. Ein weiterer Teil des Pakets war der Sex-Appeal Minderjähriger, wozu ein Magazin namens Chicken gehörte. McLaren sah es als »einen Junior-Playboy … für primitive Jungs und Mädchen«.
Doch bevor das Magazin jemals in die Gänge kam, kündigte sein Redakteur Fred Vermorel den Job. Laut dem NME warf er McLaren vor, Annabella dazu gedrängt zu haben, nackt für das Magazin zu posieren. McLaren brachte demnach ein pornografisches Element ein, das eine Zeitschrift, die eigentlich eine Art sexy Smash Hits4 werden sollte, in Wirklichkeit in »ein Erwachsenenmagazin mit Jugendlichen als Objekten« verwandelte. (Das Wort »chicken« steht in pädophilen Kreisen für Minderjährige.) Später wurde Annabella dann dazu bewegt, ihre von Vivienne Westwood designte Kluft für ein Albumcover abzustreifen, das Manets einst kontroverses Gemälde »Das Frühstück im Grünen« imitierte. Innerhalb von fünf Jahren war McLaren vom neosituationistischen Agent Provocateur zum dirty old man geworden.
1Gangster aus dem Londoner East End, die oft aufgrund ihres Ehrenkodex und ihrer paternalistischen Fürsorge für ihre Community romantisiert werden.
2Der Posten als deren Manager wurde ihm angeboten, nachdem er Anfang 1978 die Kontrolle über die Pistols verloren hatte.
3Russ Meyer war ein amerikanischer Softporno-Regisseur, der beim unvollendeten Pistols-Film Who Killed Bambi? mit von der Partie war.
4Britisches Popmagazin, dessen Hauptzielgruppe sich aus Teenagern zusammensetzte. Anm. d. Ü.
BORN TO RUN: WANDERLUST, DIE WILDNIS UND DER GESCHWINDIGKEITSKULT
»Kein großer Mann der Geschichte strebte jemals eine Heirat an.« Robert Lindner (Autor von Rebel Without a Cause: The Hypnoanalysis of a Criminal Psychopath)
Der Rebell befindet sich stets auf der Flucht vor seinem Zuhause. Dort gibt es schließlich keine Abenteuer. Ein heroisches Leben wird erst möglich, wenn der Held sein Zuhause verlässt und sich von dem, was Robert Bly das »Kraftfeld« der Frauen nennt, distanziert. In Interviews stellt Bly die Theorie auf, dass eine ganze Generation junger Männer – »Softies« – verwirrt und unglücklich sei, weil Frauen ihre Energie aufgezehrt hätten. Daher sei eine Wiederkehr männlicher Initiationsriten nötig, um sie »gänzlich in die instinktive Welt der Männlichkeit« einzuweisen. In den 1960ern war Bly Friedensaktivist und identifizierte sich nach eigener Aussage mehr mit weiblich konnotierten Werten. Doch er begann, seinen Vater »nicht mehr als jemanden zu begreifen, der mir Liebe, Aufmerksamkeit und Freundschaft verweigerte, sondern als jemanden, der selbst benachteiligt worden war, von seiner Mutter oder der Kultur.« Ähnlich wie Charles Atlas1 griff Bly nun zu den (theoretischen) Waffen. In seinem – die Wahrheit nicht so genau nehmenden – Buch Eisenhans verwandelt Bly die Ideen von C. G. Jung und Joseph Campbell (Autor von Der Heros in tausend Gestalten) in eine Art spirituelles Work-out. Laut Bly müssen Männer den Wilden Mann oder den Geist des Kriegers in sich wecken. Er ist Mitbegründer der Männerbewegung, zu deren Aktivitäten nur für Männer bestimmte Wochenendevents zur Bewusstseinsbildung in der Wildnis gehören. Ohne Frauen seien Männer in der Lage, wieder zu ihrer verloren gegangenen Männlichkeit zu finden und mit den Geistern ihrer Väter, die sie vernachlässigten, zu kommunizieren. Blys Ansicht nach stammen die Probleme der Männer von einer zu starken Identifikation mit weiblichen Vorbildern, insbesondere ihren Müttern. Er greift auf eine mythopoetische Sprache zurück, wenn er davon schreibt, dass Männer die Große Mutter zurückweisen und sich stattdessen mit der Schlange identifizieren müssen.
Robert Blys Masche erinnert stark an Jim Morrison. Man kann sich leicht vorstellen, wie aus dem Rocker, der zum aufstrebenden Poeten wurde, ein angegrauter, dickbäuchiger Barde wie Bly hätte werden können. Und tatsächlich ist Doors-Drummer John Densmore heute ein Anhänger der Männerbewegung. In seiner Autobiografie Riders on the Storm schreibt Densmore liebevoll: »Solange es junge Menschen gibt, können sie zu Jim aufblicken, damit er ihnen beim Durchtrennen der Nabelschnur helfen kann.« Zu Morrisons mythologischsten Werken gehört der epische Songzyklus »The Celebration of the Lizard« (von Absolutely Live, 1970) über die psychedelische Odyssee eines jungen Mannes. Bezeichnenderweise beginnt sie direkt nach dem Tod seiner Mutter, der ihn existenziell zu befreien scheint. Später im Songzyklus wacht er in einem Motel auf und findet ein glänzendes, schwitziges Reptil in seinem Bett: Blys Schlange, Symbol des verlorenen Phallus. Der Tod der Mutter (Morrison betonte den Umstand, dass ihr frisch begrabener Körper am Verwesen war) scheint mit dem Eintritt des Jungen ins Mannesalter in direkter Verbindung zu stehen. Am Ende des Songzyklus ist Morrisons Protagonist ein ausgewachsener Echsenkönig. Im Rahmen einer seiner unheilvollsten, groteskesten, aber auch faszinierendsten Fantasien redet Jim sein Publikum an, als wäre es ein Nomadenstamm und er sein Königssohn.
Nomadentum, Entfremdung und Flucht waren beständige Themen in Morrisons Werk (einer der intensivsten Abschnitte von »The Celebration of the Lizard« ist ein panisches, paranoides Liedchen mit dem simplen Titel »Run«). »Unsere Musik ist wie jemand, der nicht so recht zu Hause ist«, hat Morrison einmal gesagt. Die psychedelische Erfahrung in der Version der Doors drehte sich nicht um glückselige Einheit mit dem Kosmos, sondern um Desorientierung (»Strange Days«). Inspiriert von Baudelaires »great malady, horror of one’s home«