hält die Gefahr eines Grossangriffs von Deutschland gegen Frankreich für gering und Labhart sieht auch keine unmittelbare Bedrohung. Masson legt sich nicht fest.
Am Sonntag, 3. November, schreibt Labhart eine Notiz:
Die Mitteilung des Generals hat mich sehr beeindruckt, da die mir zu Kenntnis gelangten Nachrichten über deutsche Truppenbewegungen keine militärische Gefahr erkennen lassen. In der Besprechung mit dem General vertrat ich diese Auffassung und es wurde einzig die Rückberufung der Urlauber und die Erhöhung der Bereitschaft der Sprengobjekte verfügt.
Einer von Massons Mitarbeitern, Major Charles Daniel, Leiter des Büros «Andere Länder», berichtet [rückblickend in einem Bericht vom Sommer 1945], wie am 3. November 1939 ein von der Zensur abgehörtes Gespräch zwischen dem Berliner NZZ-Korrespondenten Reto Caratsch und der Redaktion in Zürich für Aufregung gesorgt habe. Caratsch redete darin von einem unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff auf die Schweiz. Die Aussenposten des Nachrichtendienstes jedoch melden: «Nichts Neues».
Am selben Sonntagabend, 3. November, erkundigt sich der Stabschef des 3. Armeekorps beim Pikettoffizier des Nachrichtendiensts, wieso sein Korps in Alarmzustand versetzt worden sei. Dieser gesteht, er wüsste nichts von einer derartigen Massnahme. Seines Wissens habe sich die militärische Lage an unserer Grenze in den letzten Tagen nicht grundlegend verändert. Grosse Verwirrung. Die von der Zensur abgefangene Meldung Caratsch war direkt an verschiedene militärische Stellen weitergegangen. Einige erhielten die aufschreckende Nachricht von NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher persönlich. Die Nervosität hielt einige Tage lang an. Daniel – in der Einschätzung Pilets «un officier réfléchi, pondéré et prudent» – schreibt in seinem Bericht:
Dies war der erste Alarm; für uns war er falsch, aber er zeigte, mit welcher Geschwindigkeit gewisse Gerüchte sich fortsetzen und wichtige Massnahmen veranlassen können.
Der Alarm erwies sich als falsch. Die Warnungen des belgischen und des französischen Geheimdiensts waren jedoch nicht aus der Luft gegriffen. Hitler hatte tatsächlich den Angriff im Westen — durch die Neutralen Holland und Belgien – auf den 12. November befohlen. Zwar erhoben die Generale Einwände gegen diesen frühen Termin – unsicheres Wetter für die Luftunterstützung, fehlendes Material und Munition nach dem Polenfeldzug –, aber Hitler bleibt fest.
Die Spannung in der Schweiz verstärkt sich noch, als am 8. November Hitler im Münchner Bürgerbräukeller mit Glück einem Sprengstoffattentat entgeht, das sieben Todesopfer fordert. Himmler leitet die Untersuchungen. Die Schweizer Zensur fängt ein Staatstelegramm aus Berlin nach Bern ab:
Die Spuren der Täter des Verbrechens von München führen ins Ausland. Es wird daher zur Förderung der Aufdeckung im Ausland eine weitere Belohnung von 300 000 RM ausgesetzt.
Die Deutschen schieben den Anschlag dem englischen Geheimdienst zu. Fälschlicherweise. Bereits am Abend des Attentats ist der Tischlermeister Georg Elser mit kompromittierenden Unterlagen in Konstanz an der Schweizer Grenze festgenommen worden. Wilde Verschwörungstheorien geistern herum. Der Ton der deutschen Presse verschärft sich, auch gegen die Schweiz. Niemand erfährt Näheres, weil die Untersuchungsbehörden an der Theorie eines britischen Mordversuchs an Hitler festhalten und schweigen. Erst nach dem Krieg wurde bekannt, dass Elser ein naiver Idealist war, der aus moralischen Gründen den Tyrannen Hitler töten wollte. Er wurde als «Sonderhäftling des Führers» und vermutlicher Zeuge gegen englische Geheimdienstler im Konzentrationslager verwahrt und am 5. April 1945 per Genickschuss unauffällig liquidiert.
Am 10. November nimmt der General an der Bundesratssitzung teil. Er schlägt vor, dass man Truppeneinheiten, deren Wiedereinberufung für den 27. November vorgesehen ist, bereits am Montag, dem 13. November, einrücken lässt. Er sieht allerdings «bis jetzt keine offensiven Konzentrationen gegen unser Land». Bundeskanzler Bovet protokolliert:
Minger ist ein wenig pessimistischer als der General. Die Situation war nie kritischer als heute. Unter diesen Bedingungen hätte man eine Generalmobilmachung rechtfertigen können. Aber er verlangt sie nicht und unterstützt den Vorschlag des Generals. Alle teilen die Meinung des Generals ausser Präsident [Etter], der zu Mingers Seite neigt.
Die Aufregung von Minger und Etter ist verständlich. Sie können nicht wissen, dass Hitler schon am Tag zuvor, am 9. November, eine Verschiebung des Angriffstermins befohlen hat. Nicht wegen des gescheiterten Anschlags auf ihn, sondern aus Wettergründen. Der vorsichtige Vorschlag des Generals wird schliesslich vom Bundesrat gutgeheissen.
Am Ende einer ereignisreichen Woche, am Samstag 11. November, präsidiert Nationalrat Markus Feldmann im Berner Restaurant Bürgerhaus eine Pressesitzung des Aktionskomitees für die am 3. Dezember bevorstehende Abstimmung über das Beamtengesetz. Beim Mittagessen führt er ein «angeregtes Gespräch mit Bundesrat Pilet», das er in seinem Tagebuch zusammenfasst:
Der Bundesrat war in den letzten Tagen durch internationale und militärische politische Lage scharf angespannt. – Pilet steht unter starkem Eindruck des Ausbaus der deutschen Spionageorganisation in der Schweiz und spricht offen von der Notwendigkeit, im Kriegsfall sofort bestimmte Leute zu erschiessen. Nach ihm zur Verfügung stehenden Nachrichten war die deutsche Spionage in Polen so ausgebaut, dass die Deutschen sogar in der Lage waren, den polnischen Truppen polnische Befehle mit der polnischen Chiffre zu erteilen. Raffiniert sollen die Deutschen vor allem das System der sogenannten «aus Deutschland Geflüchteten» ausgebaut haben. Leute, die angeblich als Gegner des deutschen Systems nach Polen entflohen, entpuppten sich bei Kriegsausbruch als deutsche Agenten, welche Telephonleitungen zerstörten, Elektrizitätswerke lahmlegten und dem deutschen Einmarsch alle Unterstützung zuteil werden liessen.
Die von den Polen gemachten bitteren Erfahrungen mit deutschen Spionen und Saboteuren haben Pilet zu denken gegeben. Telefonleitungen und Elektrizitätswerke fallen in den Bereich seines Departements. Feldmann weiter:
Auf meine Feststellung, es sei gar nicht nötig in der Presse die sich aufdrängenden Feststellungen zum Münchner Anschlag zu machen, da das Volk nur einer Meinung sei, bemerkte Pilet, das treffe nicht nur für das Volk, sondern auch den Bundesrat zu. Meine Feststellung, dass man im Politischen Departement die Lage hinsichtlich der innern deutschen Wühlereien zu optimistisch sehe, beantwortete Pilet mit der Bemerkung, Motta sei eben etwas alt und man könne ihm nicht zumuten, dass er sich in diese ganz neuen Verhältnisse hineindenke.
In seinen öffentlichen Reden ist Pilet abwägend vorsichtig, im persönlichen Gespräch kann er la langue facile, eine lose Zunge, haben – besonders, wenn beim Essen der Waadtländer Wein fliesst. So äussert er sich an jenem 11. November «sehr abfällig» über Unterstabschef Hans Frick und bezeichnet diesen als «ausgesprochen dumm». Ein Fehlurteil. Der spätere Ausbildungschef der Armee (1945-53) ist einer der klarsichtigsten Offiziere im Generalstab. Pilets negatives Urteil über Frick geht auf die ersten Tage nach Kriegsausbruch zurück, als er diesen für ein paar ihm unsinnig scheinende Massnahmen verantwortlich machte.
Als der ebenfalls am Mittagessen teilnehmende Nationalrat Bratschi meinte, es «sei eigentlich eine Heuchelei, dass der Bundesrat in Berlin Hitler anlässlich des Münchener Attentats gratuliert habe», erwiderte Pilet,
man habe das unbedingt machen müssen, man könne Hitler nicht als einen normalen Menschen betrachten und müsse diesen Glückwunsch ähnlich betrachten und beurteilen, wie wenn man einem Verrückten oder Betrunkenen auch gütlich zurede, statt ihn zu reizen.
Auch dieses von Pilet leichtfertig hingeworfene Urteil über den Führer ist falsch. Zwar lassen Hitlers berüchtigte Wutanfälle ihn für verrückt erscheinen, aber er verfolgt seine Ziele mit grosser Konsequenz. Durch Worte, ob schmeichelnd oder beleidigend, lässt er sich nicht von dem aus strategischen Gründen gewählten Weg abbringen.
In der dritten Novemberwoche legt sich die Spannung. Am 13. November 1939 schreibt der von Pilet regelmässig informierte Léon Savary:
Es gibt gegenwärtig keinen Grund anzunehmen, dass unsere Neutralität verletzt werden wird und dass eine der Kriegsparteien wissentlich und willentlich in die Schweiz eindringen will. Weder der Bundesrat noch das Armeekommando glauben, dass irgend eine der im Krieg stehenden Mächte diese Absicht gehabt hat oder