Hanspeter Born

Staatsmann im Sturm


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in seinem Lausanne. Er erklärt dem Publikum im «Métropole», wieso die von den Gegnern ins Feld geführte «Milliarde» eine «Phantommilliarde» sei. Das durch die längere Lebensdauer und die tiefer als erwarteten Zinsen entstandene technische Defizit der beiden Versicherungskassen sei kleiner.

      Wenn das Schweizervolk das Gesetz ablehnt, wird es nicht davon entbunden, die 600 Millionen für die Pensionskassen zu bezahlen, denn es handelt sich um eine formelle Verpflichtung der Eidgenossenschaft. Wenn man glaubt, dass der Staat die 1919 eingegangen Versprechen brechen kann, begibt man sich auf einen gefährlichen Weg.

      Unendlich wichtiger als die paar Millionen, die der Bund für die Kassensanierung ausgeben müsse, «sei die ehrliche Mitarbeit des Staatspersonals, um die zunehmend schwieriger werdenden Aufgaben, die sich aus dem Kriegszustand ergeben, zu einem guten Ende zu führen.» Langer Applaus am Ende der «glänzenden Schlussworte» (Gazette), und dann darf sich das Publikum einen langweiligen Film anschauen, der die von den Bundesbeamten auf den verschiedensten Gebieten geleistete tüchtige Arbeit illustriert.

      Als am Sonntagnachmittag die Abstimmungsergebnisse hereintröpfeln, ist bei Bund, Parteien und Beamtenverbänden die Ernüchterung gross.

      Bei einer Stimmbeteiligung von 62% wird das «Verständigungsgesetz» mit 481 035 Nein zu 280 238 Ja klar abgelehnt. Nur Genf, Tessin, Basel-Stadt und Uri stimmen Ja. Pilets Waadt, auch Pilets Lausanne, sagen Nein. Eine Ohrfeige für den Bundesrat.

      12. Der Nationalrat muckt auf

      Als die Bundesversammlung Ende August dem Bundesrat beinahe unbeschränkte Vollmachten erteilte, machte sie es ihm zur Pflicht, zweimal jährlich dem Parlament Bericht zu erstatten. Danach können die Räte entscheiden, ob diese Beschlüsse weiter in Kraft bleiben. Ihren ersten Bericht lieferte die Regierung am 21. November ab.

      Vielen Parlamentariern ist der Bundesratsbeschluss vom 8. September über das Nachrichtenwesen ein Dorn im Auge. Gegen den Willen der mächtigen Vollmachtenkommission, welche die «Zensurdebatte» auf die Februarsession verschieben wollte, erzwingen sie eine sofortige Diskussion. Verschiedene Nationalräte, vor allem solche, die selber journalistisch tätig sind, kritisieren weniger den Bundesratsbeschluss an sich als die von der Abteilung Presse und Funkspruch angewandte Praxis. Johannes Huber, der scharfsinnige «Kronjurist» der SP:

      Es ist unseres Erachtens nicht angängig, dass eine solche Machtfülle militärischen Instanzen überantwortet wird, und zwar in Angelegenheiten, in denen militärischen Instanzen die nötige Qualität fehlt. Dass wir mit dieser Kritik recht haben, das beweist die Praxis, vor allem jene gewisser Territorialkommandanten und ihrer Pressestellen.

      Arthur Schmid (Oberentfelden), der in Zensurfragen hellhörige Redaktor des sozialistischen Freien Aargauers, ist «grundsätzlich» mit dem Bundesrat nicht einverstanden.

      Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Bundesrat seit dem Ausbruch des Krieges den Wunsch hegt, das Schweizervolk solle möglichst schweigen, es solle sich wenn immer möglich auch in der Presse zu wichtigsten und dringlichsten Fragen, die letzten Endes unsere Existenz, die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit betreffen, nicht aussprechen.

      In Pressefragen hört der Rat gerne auf den 64-jährigen Chefredaktor der liberalen Basler Nachrichten Albert Oeri. Zensor zu sein, meint Oeri, sei eine «schwierige und undankbare Sache», deshalb gelüste es ihn nicht, selber «Zensor des Zensors» zu sein. Er bestreitet auch nicht die Nützlichkeit der Zensur in gewissen Zeiten. Oeri fragt sich allerdings, was mit einer Mahnung der Zensur anzufangen sei, keine «unkontrollierten Nachrichten» zu bringen.

      Ums Himmels willen: jeder von uns Unglücklichen von der Presse weiss doch, dass 99%, ja 999,999% aller Nachrichten, die wir bringen müssen, eben wohl oder übel unkontrolliert sind. Das gilt selbst von Heeresberichten. Wenn es z.B. heisst: «Verstärkte Artillerietätigkeit im Moselgebiet», so können wir das doch nicht kontrollieren.

      Oeri befürchtet, dass der Bundesrat «ausländischen Beeinflussungsversuchen» nachgeben und damit den Weg zur «Gesinnungsneutralität» öffnen könnte.

      Mir wäre es eine besondere Beruhigung, wenn ich von Seiten des Bundesrates die Erklärung erhalten könnte, dass er gegenüber ausländischen Beeinflussungsversuchen fest bleiben werde.

      Es ist für Rat und Öffentlichkeit kein Geheimnis, dass deutsche Amtsstellen und Zeitungen der schweizerischen Presse vorwerfen, sie sei nicht neutral, sondern franko- und anglophil. Dies begann 1933 mit der Machtübernahme Hitlers. Ernst von Weizsäcker klagte schon als Gesandter in Bern, die Lektüre der Schweizer Zeitungen versalze ihm den Morgenkaffee. Obschon eigentlich ein Freund der Schweiz, liest er als Staatssekretär dem Gesandten Hans Frölicher ständig die Leviten über die Sünden der Schweizer Presse. Seit Kriegsbeginn beschweren sich deutsche Diplomaten regelmässig beim Politischen Departement. So protestierte am 22. November 1939 Legationsrat Freiherr von Bibra, de facto Landesgruppenleiter der NSDAP und starker Mann in der Berner Gesandtschaft, gegen einen Artikel des polnischen Gesandten Thytus Sas Komarnicki in der Gazette de Lausanne und redete von einem «grotesken Verstoss gegen die Neutralität». Darauf wurde ihm mitgeteilt, die Presseabteilung werde dafür sorgen, «dass solche Publikationen nicht mehr vorkommen». Schon früher hatte Bibra die Worte fallen lassen, «dass der Führer gegen die Schweiz sehr schlecht gestimmt sei, und dass die jüngsten Entgleisungen der Schweizer Presse ihn zu Äusserungen veranlasst hätten, die, wie der Berliner sage, bis zu äusserst an die Palmenspitze gingen».

      Am Schluss der Dezember-Nationalratsdebatte beteuert Bundesrat Johannes Baumann, dass niemand die «Presse neutralisieren» wolle. Er bestreitet, dass eine «ausländische Beeinflussung» zu einer Verschärfung der Pressekontrolle geführt habe. In seinem Schlusswort mahnt er:

      Wenn unsere Soldaten an der Grenze Wacht halten sollen, dann darf doch verlangt werden, dass im Hinterland keine Ausschreitungen der Presse erfolgen, die die Sicherheit unseres Landes gefährden können.

      Er hat in dieser Beziehung eine ähnliche Auffassung wie General Guisan und Nachrichtenchef Masson.

      Die Ratsdebatte endet, aber das Misstrauen gegenüber der Presseüberwachung bleibt. In der Gazette nennt Pierre Grellet die Zensur durch das Militär einen Fehler, der ins Auge springe.

      In einem nach militärischer Hierarchie organisierten Büro, welches ein Amt verwaltet, das vor allem das Zivilleben betrifft, kann es vorkommen, dass die Kompetenzen im umgekehrten Sinn verteilt sind als der Grad, dass ein Korporal seinen Beruf viel besser kennt als der Oberst und trotzdem ist es der Korporal, der die Befehle seines hierarchischen Vorgesetzten ausführen muss.

      Bundeshauskorrespondent Georges Perrin, nebenamtlich Pilets Verbindungsmann zum Radio, zieht folgendes Fazit über die Zensurdebatte, die Bundesrat und Vollmachtenkommission lieber vermieden hätten:

      Eine solche Debatte war von hohem Nutzen und die [Vollmachten-] Kommission beging einen grossen psychologischen Fehler, als sie sich darauf versteifte, sie umgehen zu wollen. Die Behörden sind jetzt gewarnt. Sie können en connaissance de cause einschreiten und gewisse Erscheinungen, welche die Presse zurecht beunruhigt haben, zum Verschwinden bringen. Wenn die Behörden jetzt bald handeln, dann wird die Zensur, deren Notwendigkeit niemand bestreitet, zur Zufriedenheit aller funktionieren. In diesem Sinn hat die Debatte vom Dienstag die Aufgabe der Regierung enorm erleichtert.

      Pilet wird die Meinung seines Vertrauensmanns Perrin geteilt haben.

      13. Zum zweiten Mal Bundespräsident

      Für Journalisten und Politiker mag die Zensurfrage brennend sein, das Volk hat andere Sorgen. Pilet erhält Zuschriften von gewöhnlichen Bürgern und Kantonsregierungen, die eine grosszügigere Praxis bei der Zuteilung von kostenlosen oder verbilligten Zug- und Postautofahrten für Militärpersonen fordern, die aus familiären oder beruflichen Gründen heimreisen müssen. Das innenpolitisch wichtigste Thema für Bundesrat und Bevölkerung ist die Lohnausfallentschädigung für Soldaten. Ihr Fehlen war ein Hauptgrund für die sozialen Spannungen im Weltkrieg 1914–18. Am 20. Dezember beschliesst der Bundesrat