Hanspeter Born

Staatsmann im Sturm


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Bürger, die ein legislatives Mandat ausüben, vom Radio auszuschliessen. Als Mittellösung könnte man Parlamentarier gelegentlich zu Problemen aus ihrem Expertenbereich als Mitarbeiter beiziehen, ohne jedoch einen unter ihnen exklusiv zu bevorzugen. Savary gibt Pilets Meinung wieder. Für einmal ist der eigenwillige Literat his master’s voice.

      Pilet macht sich sofort auf die Suche nach einem oder mehreren Nachfolgern für Moos. Sein Auge fällt auf den als vorsichtig geltenden ETH-Geschichtsprofessor Jean Rudolf von Salis. Wie Moos schreibt auch von Salis aussenpolitische Berichte für Die Tat. Als militärischer Hilfsdienstpflichtiger ist er der Pressestelle des Politischen Departements zugeteilt, die sein Studienfreund Rezzonico leitet. Am 8. Februar 1940 beauftragt Pilet von Salis, vorerst stellvertretend einzuspringen, wenn Moos verhindert sei. Der Bundespräsident erteilt ihm keine Weisungen, sondern sagt ihm, er solle einfach so sprechen, wie er bisher in Zeitungen und Zeitschriften geschrieben habe. Da von Salis noch anderweitig beschäftigt ist – er schreibt Bundesrat Mottas Biographie –, wird Moos bis zum Oktober die Weltchronik weiter allein lesen.

      16. Gäste aus West

      Am 6. Januar nimmt Bundespräsident Pilet das Beglaubigungsschreiben des neuen britischen Gesandten David Victor Kelly (später Sir David Kelly) entgegen. Kelly hat auf Posten in Argentinien, Portugal, Mexiko, Belgien, Schweden, Ägypten und zuletzt im Foreign Office in London reiche diplomatische Erfahrung sammeln können. Die Schweizer Gesandtschaft in London beschreibt ihn als einen «der liebenswürdigsten Beamten des Foreign Office». Minister Kelly ist irischer Herkunft und Katholik. Die Schweiz kennt er gar nicht, aber er erklärt sich glücklich, in ein geschichtsträchtiges Land zu kommen, «dessen hohe Zivilisation und Hingabe an humanitäre Werke seiner Freiheitsliebe gleichkommen». Kelly wird in den nächsten beiden Jahren viel mit Pilet zu tun haben.

      Als Bundespräsident verfasst Pilet Spendenaufrufe für Hilfswerke wie Pro Infirmis. Zeitungen und Zeitschriften wünschen von ihm Beiträge. Meist muss er aus Zeitgründen absagen. Immerhin schreibt er einen kleinen Aufsatz für L’écolier romand, in dem er sich an die eigene Jugend erinnert – lang ist’s her. Als vieux monsieur will er – keine Angst! – nicht moralisieren, sondern fordert die Kinder auf, im Schnee zu spielen und sich des Lebens zu freuen.

      Ein Bundespräsident wird mit Briefen von Unbekannten überhäuft, die Ratschläge geben, kritisieren oder etwas von ihm wollen. Er verwaltet eine aus einer privaten Spende gespeiste Schatulle zur Unterstützung von notleidenden Bittstellern und muss abklären, ob diese einen Zustupf verdienen oder nicht. Pilet hat dies schon 1934 gewissenhaft getan.

      In der ersten Januarwoche 1940 erhält der Bundespräsident ein Empfehlungsschreiben von André Siegfried, einem namhaften französischen Soziologen und Historiker, der später ein Standardwerk über die Schweiz verfassen wird. Siegfried kennt Pilet von früheren Begegnungen. Er bittet ihn, James Hyde, einen seit Jahren in Frankreich lebenden Amerikaner, zu empfangen. Hyde, «der Beste unter den Amerikanern und auch der Beste unter den Franzosen», habe «in den kulturellen Beziehungen zwischen Europa und Amerika eine beträchtliche Rolle gespielt». So stellte der Multimillionär – Mehrheitsaktionär der Equitable Life Assurance Society, der von seinem Vater gegründeten zweitgrössten Versicherungsfirma der USA – im Weltkrieg sein Pariser Haus dem Roten Kreuz zur Verfügung und fuhr selber Ambulanzen, wofür er mit dem Grosskreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde.

      Nach seinem Treffen mit Mr. Hyde schreibt Pilet vertraulich an Minister Stucki in Paris:

      Der Eindruck, den er [Hyde] mir gemacht hat, ist exzellent. Er ist sogar zu gut und dies ist der Grund, wieso ich Ihnen schreibe. Er hat ein sehr grosses Interesse für unser Land gezeigt und hat sich über die Dinge und besonders die Leute von drüben mit einer Freimütigkeit geäussert, die mich erstaunte. Er scheint eine gewisse Zeit in der Schweiz verbringen zu wollen. Er hat angedeutet, dass er mich wiedersehen möchte. Er ist gar noch weiter gegangen: Er hat sich auf eine gewisse Weise mir zur Verfügung gestellt. Daher möchte ich von Ihnen nähere Auskunft über ihn. Ist er ein ehrlicher Mensch – nicht materiell, aber moralisch? Ist er loyal, sicher? Und auch vorsichtig? Ist er in seinem Herzen Amerikaner oder Franzose oder beides? Ist er in völlig persönlicher und privater Eigenschaft in der Schweiz? Ich sage nichts mehr. Sie werden verstanden haben. Merci zum Voraus.

      Stucki wird verstanden haben. Will Hyde als inoffizieller Abgesandter der amerikanischen oder der französischen Regierung über die Möglichkeit einer Schweizer Friedensmission sondieren? Im Verlauf der nächsten Jahre werden immer wieder ausländische Persönlichkeiten zu Pilet kommen, deren wirkliches Ansinnen nicht klar ist, die ihn jedenfalls aushorchen möchten. Es gilt, auf der Hut zu bleiben.

      Es wird sich herausstellen, dass James Hyde ein ehrlicher Freund ist, der in Genf das IKRK materiell unterstützt. Ein paar Monate später (März oder April) wird der Bundespräsident an einer Einladung der amerikanischen Gesandtschaft erneut Mr. Hyde treffen. Man redet über den zu erwartenden Kriegsverlauf, die Maginot-Linie und die Widerstandskraft der Franzosen. Darauf soll Pilet plötzlich eingeworfen haben: «Ich glaube nicht an diese Widerstandskraft. Innerhalb von drei Monaten werden die Deutschen in Paris sein, aber der Krieg wird noch Jahre weiter dauern.» Betretene Stille. Für den Rest des Essens schneidet Mr. Hyde den Bundesrat. Nach dem Krieg wird der Millionär Alt-Bundesrat Pilet-Golaz ein Telegramm schicken; «You were right and I was wrong.» Als das Ehepaar Pilet 1946 nach Amerika reist, wird es von Hyde zu sich eingeladen und fürstlich bewirtet.

      Pilets Prognose über eine rasche französische Niederlage widerspricht der Lagebeurteilung von fast allen massgeblichen Politikern und Militärs in Frankreich und England. Selbst die deutschen Heerführer glauben lange Zeit nicht an den Erfolg der von ihnen vorbereiteten Offensive. Bloss Hitler ist siegesgewiss.

      Jules Romains – Verfasser der Romanreihe «Les Hommes de bonne volonté», des Erfolgsstücks «Docteur Knock», Präsident des PEN-Clubs – ist auf Vortragstournee in der Schweiz. Im Saal sitzt auch der Bundespräsident. Romains kennt Pilet ein wenig, schätzt ihn als «soliden Geist, zutiefst ein Freund Frankreichs, ganz von unserer Kultur imprägniert». Am Ende des Vortrags sagt Pilet zu ihm: «Kommen Sie mich morgen besuchen, wir können dann plaudern.» Tags darauf geht Romains ins Bundeshaus. Der Bundespräsident fragt seinen Gesprächspartner über alles Mögliche aus, besonders über Romains’ persönliche Einschätzung der Zukunftsaussichten. Nachdem er dem Schriftsteller nachdenklich zugehört hat, sagt Pilet:

      Ich bin überzeugt – notez-le bien –, dass Frankreich und Grossbritannien schliesslich den Sieg erringen werden. Übrigens wäre das Gegenteil für uns alle so schrecklich, dass man gar nicht daran zu denken wagt … Ja … Aber ich bin nicht sicher, ob eure Regierung sich eine richtige Idee über die Lage macht. Für uns ist es schwierig, sie auf dem offiziellen Weg zu warnen.

      Romains bittet Pilet um eine nähere Erklärung. Er garantiert ihm, dass seine vertraulichen Mitteilungen nicht verloren gehen werden. Er werde davon auch keinen indiskreten Gebrauch machen. Darauf Pilet:

      «Eh bien! Ich habe den Eindruck, dass ihr in Frankreich euch über die Haltung Hitlers ziemlich schwer täuscht. Ihr scheint zu glauben, dass er die Dinge in die Länge zieht, weil er nicht entschlossen ist, die Partie à fond zu beginnen. In der Lage, in der wir uns befinden, haben wir Informationsquellen, die ihr nicht habt. Glauben Sie mir, es ist sehr ernst. Die Nazis bereiten sich voll und ganz vor. Sie ziehen Streitkräfte und Mittel zusammen, von denen ihr keine Ahnung habt. Persönlich bin ich sehr beunruhigt. Noch einmal, ich will nicht am Endsieg zweifeln. Aber ihr wollt doch nicht, dass er sich sehr spät einstellt, vielleicht erst nach schrecklichen Niederlagen, nicht wahr?»

      Zurück in Paris, ersucht Romains den mit ihm befreundeten Ministerpräsidenten Daladier telefonisch um eine Unterredung. Weil dieser gerade im Parlament beschäftigt ist, bittet er Romains, vorerst mit X, seinem aussenpolitischen Berater, zu reden. Der Schriftsteller geht zu X, um ihn über Nachrichten von «auschlaggebendem Interesse» zu informieren. Doch X lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen und meint:

      Hitler weiss, dass er verloren ist. Er fragt sich einzig, wie er fallen wird. Es ist sehr wohl möglich, dass er das Spiel einer Offensive