die Verhandlungen mit den Westmächten plötzlich Priorität. Als Bundespräsident studiert er die Dossiers und notiert sich die Hauptpunkte aus den Referaten der Schweizer Unterhändler. In Abwesenheit von Obrecht nimmt er selber das Heft in die Hand. Am 11. Januar lässt er sich von Minister Hotz über die von Frankreich und Grossbritannien gestellten Forderungen unterrichten. Er macht sich Aufzeichnungen über die Entwicklung der Handelsbeziehungen zu den beiden Blöcken und über die wichtigsten Import- und Exportprodukte.
Zuvor hat er sich neun Punkte aufgeschrieben, die es seiner Meinung nach bei den kommenden Gesprächen zu beachten gilt. Er empfiehlt, «mit Herzlichkeit zu handeln, jede Brüskierung zu vermeiden, aber Festigkeit» zu zeigen. Vor allem gelte es, «nicht zu verzweifeln». Die Schweiz habe Trümpfe in Frankreich, zu denen Ministerpräsident Daladier gehöre, der zwar noch nicht auf dem Laufenden sei, «aber keinen Bruch mit der Schweiz will». Käme es trotzdem zum Bruch, dann solle man dies akzeptieren und zwei oder drei Monate warten, bevor man die Verhandlungen wieder aufnimmt.
15. In den Fettnapf getreten
Kaum hat Pilet sein Amt als Bundespräsident angetreten, wartet in seinem Departement eine lästige Überraschung auf ihn.
Jeden Dienstag um 19 Uhr 15 liest Herbert Moos (ursprünglich von Moos) im Studio Zürich seine Weltchronik. Dieser fünfzehnminütige Bericht ist die einzige von Radio Beromünster regelmässig ausgestrahlte aussenpolitische Sendung. Moos verfasst diesen Überblick über die internationale Lage seit vier Jahren. Seine sachlichen, gut verständlichen Orientierungen über das Weltgeschehen werden weit herum geschätzt. Wahrscheinlich hat seine Popularität als Radiochronist dazu beigetragen, dass er im Oktober als politischer Neuling überraschend in den Nationalrat gewählt wurde – als einziger Vertreter von Duttweilers Unabhängigen im Kanton Bern. Duttweiler hat ihn auch als aussenpolitischen Redaktor der Zeitung Die Tat angestellt.
Am Schluss seiner Weltchronik vom 2. Januar 1940 verabschiedet sich Moos mit Wünschen zum Neuen Jahr und fügt hinzu:
Dann muss ich Ihnen noch mitteilen, dass ich wahrscheinlich im Laufe dieses Monats meine Radioberichte einstellen muss. Der verehrte Chef des Post- und Eisenbahndepartements, Herr Bundespräsident Pilet-Golaz, ist der Ansicht, dass sich diese Berichte mit meinem Nationalratsmandat nicht vereinbaren lassen. Sollte diese Ansicht aufrechterhalten bleiben, so müsste ich mit grossem Bedauern auf meine Berichterstattung verzichten.
Es würde mir dies umso mehr leidtun, als ich immer fühle, wie der Kontakt zwischen Ihnen allen und mir immer reger werde, und wie wir alle wussten, dass in einer klaren und unparteiischen Kenntnis unserer Umwelt ein gutes Stück der Sicherheit unseres lieben Vaterlands liegt. Damit sage ich Ihnen allen noch ein oder zweimal Auf Wiedersehen.
Die geschickt formulierte Mitteilung hat die von Moos bezweckte Wirkung. Enttäuschte Hörer schreiben spontan dem Bundespräsidenten. So Frau Lisa Straub, Frauenfeld:
Glauben Sie, in einer so bangen Zeit von ungezählten Lügen, politischen Wirrnissen und Überraschungen sind die sehr klaren, ganz unparteiischen Ausführungen des Herrn Herbert Moos nicht nur interessant, sondern direkt wohltuend und sicher haben diese mit seinem Nationalratsmandat gar nichts zu tun. Wenn es möglich ist, geehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie die vielen tausend, braven Schweizer diese Viertelstunde pro Woche nicht missen.
J. Breitenstein, Olten, lobt Moos’ «kaum zu übertreffende Objektivität»:
Ich bin sehr unangenehm überrascht zu vernehmen, dass Herr von Moos wegen seinem Nationalratsmandat künftig nicht mehr zu uns sprechen könne. Als freier Bürger erlaube ich mir, Ihnen höflich zu erklären, dass mir Ihre Erklärung kleinlich erscheint und gar nicht zu Ihrem bisherigen Wirken als Bundesrat passt. Wenn Sie diese Massnahme bewirken ohne bessere Begründung, werden Sie sehr viel Unwillen erwirken. Wenn es zu einer Protestversammlung käme in dieser Angelegenheit, so müssten Sie Zweifel bekommen über die Opportunität dieser Massnahme.
Zum letzten Satz setzt Pilet Randstrich und Fragezeichen. Spürt er, dass er einen Fehler machte, als er den neu gewählten Nationalrat als aussenpolitischen Chronisten absetzte? Kaum. Es liegt nicht in seiner Natur, eigene Fehler einzusehen. Und schon gar nicht, sie einzugestehen. Qui s’excuse, s’accuse.
Wenn Pilet in den nächsten Tagen die vielen kritischen Artikel liest, die man ihm im Departement ausgeschnitten hat, muss er allerdings merken, dass er sich in die Nesseln gesetzt hat. Die Neue Bündner Zeitung kann nicht verstehen, wieso ein Nationalrat im Radio nicht über aussenpolitische Fragen sprechen solle:
Mit solchen Massnahmen, die schliesslich dazu führen, in Presse und Radio nur noch die amtlich bewilligte Meinung zuzulassen, fördert man jedoch die geistige Widerstandskraft nicht, sondern macht sie erst recht unsicher und zerfahren. Das kann sich eines Tages bitter rächen. Vielleicht überlegt man sich also in Bern die Sache noch einmal und besinnt sich eines Besseren.
Der Winterthurer Landbote und die Basler National-Zeitung – wie die Neue Bündner Zeitung eher regierungskritische linksbürgerliche Zeitungen – hauen in die gleiche Kerbe.
Am 5. Januar bittet Pilet Moos brieflich, «am 11. Januar um 14.15 Uhr bei mir vorzusprechen». Am 9. Januar fällt die «Weltchronik» aus. Stattdessen ertönt Grammofonmusik, was die Presse erst recht auf den Sprung bringt. Unter dem Titel «Nicht mehr zu überbietende Angstmeierei» brandmarkt das Volksrecht das «Redeverbot Bundesrat Pilets». Das Zürcher Sozialistenblatt wittert «Liebedienerei gegenüber gewissen Grossmächten». Die National-Zeitung vermutet, man wolle die aussenpolitische Übersicht überhaupt aus dem Programm streichen.
Pilet ist sich einiges an Kritik gewohnt, aber Breitseiten aus dem eigenen bürgerlichen Lager sind eine Überraschung. Kein Wunder, ist er verstimmt. Am 11. Januar spricht Moos ordnungsgemäss bei Pilet vor. Der Bundesrat liest dem Nationalrat die Leviten und gibt ihm Anweisungen für seine nächste Sendung. Er müsse den Hörern erklären, dass der Ausfall der Weltchronik vom 9. Januar keineswegs auf Geheiss des Postdepartements, sondern auf Moos’ eigenen Wunsch geschehen sei. Er müsse «aufs Kategorischste den Irrtum zerstreuen», dass Pilets Anweisungen auf Druck des Auslands erfolgt seien. Moos werde dann seinen Vortrag halten, «als wäre nichts geschehen». Moos’ Nachfolge werde in Etappen und «in Übereinstimmung mit mir» erfolgen. Er, Pilet, denke nicht an einen Nachfolger, sondern mindestens an zwei.
Pilet fasst die Unterredung in einem spröden Brief zusammen. In seinem Antwortschreiben fügt sich Moos, widerspricht jedoch Pilets Meinung, dass die Stellung eines Nationalrats nicht mit der Anstellung als wöchentlicher Radiokommentators vereinbar sei.
Wie befohlen, fügt Moos seinem Brief an Pilet die Sätze hinzu, mit denen er die nächste Weltchronik am 16. Januar beginnen wird:
Am letzten Dienstag war es mir leider aus persönlichen Gründen nicht möglich, meinen Vortrag zu halten. Heute aber möchte ich ihn beginnen mit der Bemerkung, dass die Entscheidung, die der Chef des Eidgenössischen Post- und Eisenbahndepartements in bezug auf meine Vorträge eingenommen hat, in keiner Weise irgendwie durch eine Einflussnahme weder von der einen noch von der andern Seite entstanden ist. Sie entspricht allein seiner Auffassung von der Rolle des schweizerischen Rundspruchwesens in der heutigen Lage.
Ein paar Tage später äussert sich Léon Savary in der Tribune de Genève zum Fall Moos. Er bezieht sich dabei auf eine «sichere Quelle», die nur Pilet selber gewesen sein kann. «Man» wolle keineswegs auf einen Vortrag verzichten, der auf objektive Weise die internationale politische Lage erkläre, beruhigt Savary. Allerdings sei das für das Radio zuständige Departement «in allem, was die Aussenpolitik betrifft, an grosse Vorsicht gebunden».
Das Radio hat auf diesem Gebiet zweifellos noch striktere Aufgaben als die Presse, denn diese ist bei uns eine private Angelegenheit, während das Radio zu allen Zeiten ein konzessionierter öffentlicher Dienst und in Kriegszeiten sogar völlig verstaatlicht ist.
Savary hält es für unangebracht, einem Parlamentarier auf Dauer eine feste Senderubrik zuzugestehen. Dies verschaffe diesem gegenüber seinen Ratskollegen einen Vorteil, den er in einer Wahlperiode zu seinen Gunsten ausnützen