Hanspeter Born

Staatsmann im Sturm


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ein Pfiff, und eine Kavallerieschwadron setzt sich in Bewegung. Schweigend schaut die auf dem Bundesplatz versammelte Menschenmenge dem Leichenzug zu. Die Berner Stadtmusik mit rot-schwarzem Federbusch auf der Schirmmütze schlägt die ersten Takte von Chopins Trauermarsch an. Hinter ihr marschieren die Studentenverbindungen mit ihren farbigen Mützen und Bannern, allen voran die katholische. Das Soldatendetachement mit den Kränzen gleicht einem marschierenden Blumenbeet. Durch ihre Grösse und Pracht fallen die Blumentribute des französischen Ministerpräsidenten Daladier und des bulgarischen Königs Boris auf. Ribbentrops Kranz hat ein Hakenkreuz auf der roten Schlaufe.

      Auf dem von zwei stämmigen Rossen gezogenen Karren liegt ein einfacher eichener Sarg. «La voilà la vraie grandeur», raunt ein französischer Journalist. Hinter dem Leichenwagen schreiten die Bundesräte und Mottas ehemalige Regierungskollegen Musy, Calonder, Meyer, Häberlin und Schulthess. Es folgen der General allein, die höchsten Schweizer Heerführer, die Mitglieder des Diplomatischen Corps, hinter ihren Weibeln in bunten Kantonsuniformen die Vertreter der Standesregierungen, voran der Tessiner Staatsrat. Zum Klang der Glocken erreicht der Zug die katholische Dreifaltigkeitskirche, vor der behelmte Soldaten in Achtungstellung Spalier stehen. Sechs von ihnen tragen den mit einer Schweizerfahne bedeckten Sarg im rötlichen Schein der Kerzen durch das Kirchenportal.

      Die Soldaten legen den Sarg sanft zwischen grünen Pflanzen beim Choreingang nieder. Hinter dem Chor hat man ein kleines Podium errichtet, auf das nun Bundespräsident Pilet-Golaz steigt. Mit einer Stimme, die tönt, als sei sie «in Krepppapier gehüllt», zeichnet er auf Französisch die wichtigsten Stationen von Mottas Laufbahn nach. Motta habe begriffen, dass das Wohl des eigenen Volkes und der Menschheit nur im Frieden liegen könne. Deshalb habe er der Schweiz ihren Platz im neu gegründeten Völkerbund gesichert und dann in Genf eine bedeutende Rolle gespielt:

      Seinen Einfluss verdankte er vor allem seinem Charakter, seinem Herzen. Sein Glaube überzeugte ihn davon, dass am Ende das Gute siegen werde. Dieser gleiche Glaube hielt ihn bescheiden. Der Erfolg blendete ihn nicht. Seine Bescheidenheit leuchtete im Bundesrat auf.

      Mit seiner einmaligen Erfahrung und seinen reichen Beziehungen hätte Motta eine persönliche Aussenpolitik betreiben können: «Nie hat er dies gewollt. Im Gegenteil, er trug ständig Sorge, in völligem Einklang mit uns zu bleiben.»

      Pilet, der annimmt, dass er Mottas Nachfolge im Politischen Departement übernehmen wird, formuliert mit diesen Worten Führungsgrundsätze, die einzuhalten er fest entschlossen ist. Wie sein grosses Vorbild will er keine persönliche Aussenpolitik führen, nur diejenige des gesamten Bundesrats. Auch er will auf den Rat der Kollegen hören und ihre Zustimmung einholen. Die Schweizer Aussenpolitik werde bleiben, was sie war – «Meisterschaft in der Umsetzung ausgenommen» –, wie Pilet nachdenklich hinzufügt. Motta habe sein Departement inspirierend und wachsam geführt:

      Pas d’éclats, pas de fracas, pas d’hésitations non plus (keine Skandale, kein Krach, aber auch kein Zaudern). Eine genaue Vorstellung von den Bedürfnissen des Landes, eine aussergewöhnliche Voraussicht der kommenden Entwicklungen. Ein präzises Ziel: Die Unabhängigkeit einer respektierten, wenn möglich geliebten Schweiz. Der feste Wille, sie zu erreichen. Die unvergleichliche Flexibilität der Mittel.

      Gegen Ende der Rede überwältigen den Bundespräsidenten seine Gefühle. Nur schwer unterdrückt er ein Schluchzen:

      Durch sein so grosszügig liberales Verständnis, durch seine Beherrschung der dreifachen europäischen Kultur, durch seinen Geist der Toleranz und Brüderlichkeit, durch sein demokratisches Ideal war er so etwas wie die zeitweilige Inkarnation des geliebten Vaterlands. Er war für jeden von uns un conseiller, un guide, un ami. Giuseppe Motta ist nicht mehr. Wir trauern um ihn und das Schweizervolk mit uns.

      Die Trauergemeinde ist ergriffen. Mit seiner Abdankungsrede hat Pilet sich seinen Landsleuten, vor allem den Deutschschweizern, die ihn wenig kennen, als Redner von Format und umsichtiger Staatsmann vorgestellt. Ausländische Diplomaten, für die ein Eisenbahn- und Postminister wenig bedeutet, werden auf ihn aufmerksam.

      18. Drôle de guerre

      Als Bundespräsident will Marcel Pilet-Golaz sich persönlich vom Armeekommando über die für den Kriegsfall vorgesehenen Massnahmen berichten lassen. Angetan «mit einem pelzgefütterten Umhang und einer Fellmütze» fährt er am Montagnachmittag, 31. Januar 1940, nach Langnau zum Generalstab. Dort wird er in der Villa Reichen von Oberst Logoz, dem juristischen Berater der Armeeleitung, und dem der Nachrichtenabteilung zugeteilten Hptm. Barbey empfangen.

      Zu Beginn des Langnauer Gesprächs erinnert Pilet Barbey beiläufig an die alten Zeiten, als sie im Schloss Montcherrand, dem bei Orbe liegenden Sommersitz der reichen Genfer Familie Barbey zusammentrafen. Bernard war ein Knirps, der vom Studenten Henry Vallotton, dem jetzigen Nationalrat, als Hauslehrer unterrichtet wurde. Pilet, damals mit Vallotton befreundet, ist ihm dort begegnet. Pilet bemerkt scherzend zum 40-jährigen Barbey – er ist jetzt praktisch glatzköpfig –, damals habe er noch Haare bis auf die Stirn gehabt. Dieser bemerkt in seinem Tagebuch:

      Ich finde dies eher komisch. Logoz hat mir nachher gesagt, dass dies bei Pilet-Golaz für seine Art von Liebenswürdigkeit bezeichnend sei, und dass dies nicht bei all seinen Gesprächspartnern gut ankomme.

      Man geht zu den ernsten Dingen über, zu den Stabarbeiten, die im Hinblick auf eine eventuelle ausländische Hilfe im Falle eines Angriffs auf die Schweiz vorgenommen werden. Logoz liest Pilet seinen Entwurf für einen Hilfsvertrag mit Frankreich vor und Barbey resümiert, was man von Seiten des Generalstabs militärisch den Franzosen vorschlagen und von diesen verlangen würde.

      Der Präsident scheint in gewissen taktischen – jedoch nicht in strategischen – Problemen ziemlich gut auf dem Laufenden zu sein. Er hat uns zwei oder drei zweckdienliche Fragen gestellt, die uns zu einer leichten Abänderung unseres Texts veranlassen werden. Seine Autorität macht Eindruck; aber man könnte sagen, er versucht, sie durch den Tonfall zu verstärken, der trocken oder schneidend werden kann.

      Der Schriftsteller Barbey kann Personen genau beobachten und beschreiben. Er hat das Wesen Pilets gut erfasst:

      Die Natürlichkeit fehlt ihm am meisten. Seine Pupille hat eine sehr spezielle grünbraune Farbe: der bewegliche Blick ist mal bohrend, mal nachdenklich. Vor wichtigen Worten schiebt der Präsident Pausen ein, die den Anschein des Zögerns geben, aber die in Wirklichkeit recht effektvoll sind – wenigstens für Leute, die nicht daran gewöhnt sind.

      Pilet sagt seinen Gesprächspartnern, was im Fall einer «von uns verlangten und von den Franzosen akzeptierten Intervention» – «der einzig in Betracht fallenden Hypothese», wie er betont – zu geschehen habe. Sofort müsse man dann Bevollmächtigte nach Paris schicken. An ihrer Spitze könne aber keinesfalls der Bundespräsident sein. Pilets Worte überraschen Logoz, der selber ein solches Vorgehen geplant hat.

      Logoz schlägt Pilet (seinem Duzfreund) vor, er, als Bundespräsident, solle die Armeeleitung auffordern, die Vorarbeiten für den «Fall West» [die Verletzung unserer Neutralität durch Frankreich] zu beschleunigen. Im Hinblick auf eine – wohl rein theoretische – «Intervention der Wehrmacht auf unser Ansuchen hin» müsse nun auch mit den diesbezüglichen Studien begonnen werden. Pilet ist einverstanden. Er verrät noch, wohin sich der Bundesrat im Kriegsfall zurückziehen werde: Im «Fall Nord» nach Lausanne, im «Fall West» nach Luzern.

      Ein paar Wochen später erhält der Bundespräsident überraschend einen brisanten politischen Bericht von Nationalrat Henry Vallotton, eben jenem ehemaligen Hauslehrer von Bernard Barbey.

      Während Jahrzehnten war Henry Vallotton Marcel Pilets engster persönlicher und politischer Freund gewesen. Für den Gymnasiasten Marcel und seine Freundin «Tillon» (Mathilde Golaz) war der etwas jüngere Henry frérot – das «Brüderchen». Man war unzertrennlich, schrieb sich lange intime Briefe und philosophierte in die Nacht hinein. Seit drei Jahren sind die beiden verkracht, was allerdings nur wenige wissen. Vallotton, Präsident der Waadtländer Radikalen, ehemaliger Rallye-Fahrer, berühmter Afrikareisender, Erfolgsschriftsteller und gesuchter Gesellschaftsanwalt, ist im Welschland eine Grösse. Als Präsident der Vereinigten