Hanspeter Born

Staatsmann im Sturm


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unterstützt kranke oder verunfallte Wehrmänner. Auf Bitte des mit ihm befreundeten Journalisten Léon Savary schreibt Pilet einen Artikel für eine der Nationalspende und dem Roten Kreuz gewidmete Sondernummer der Tribune de Genève, Die Zeitung druckt den handgeschriebenen Aufruf des Bundespräsidenten gross auf zwei Seiten als Faksimile ab.

      Viele Auslandschweizer, die seit Kriegsausbruch in die Heimat zurückgekehrt sind, haben ohne eigenes Verschulden ihre Stelle verloren oder sind sonst in Not geraten. In Lausanne hat ein umtriebiger Geschäftsmann namens Charles Beck einen «Landesverband der heimgekehrten Auslandschweizer» ins Leben gerufen. Er knüpft Kontakte im ganzen Land, errichtet Zweigstellen, sammelt Geld bei Firmen und Privaten. Der Verkauf eines Hefts von sogenannten Verschlussmarken – timbresvignettes – soll die Kassen des Hilfswerks füllen. Beck schreibt Pilet mit der Bitte um eine Audienz. Er höre sich täglich die Klagen von Hunderten von Heimkehrern an, die Gefahr liefen, gegen das eigene Land verbittert zu werden. Er könne dem Bundespräsidenten Dinge mitteilen, die den «offiziellen Diensten» verborgen blieben.

      Pilet zieht Erkundigungen ein. Er erfährt, dass bereits eine offizielle «Zentralstelle für Beratung und materielle Unterstützung der Rückwanderer» existiert. Ihr Präsident, Gymnasiallehrer A. Lätt, warnt vor Becks Organisation, die mit ihren Sonderaktionen die Sympathien des Publikums missbrauche. Robert Jaquillard, Waadtländer Polizeikommandant, schickt seinem Freund Pilet ein Résumé des Dossiers, das über Charles Beck – «un individu très suspect» – angelegt worden ist. In jungen Jahren ist der Neuenburger Beck in Berlin wegen Veruntreuung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Er hat später in Frankreich Firmen in der Automobilbranche gegründet, die Konkurs machten. 1937 wurde er in Lausanne wegen Waffenschmuggels nach Spanien verhaftet und zu 500 Franken Busse verurteilt.

      Der so gewarnte Pilet bleibt zu Beck auf Distanz, teilt ihm jedoch mit, dass in Bern, «unter dem Patronat meiner Frau» eine Veranstaltung zugunsten der Rückkehrer vorbereitet werde. Auf Wunsch Pilets hat der Geschäftsträger von Panama, der bisher jeden Winter im Hotel Bellevue ein Galadiner für das diplomatische Korps gegeben hat, angesichts der internationalen Lage dieses durch ein Wohltätigkeitskonzert ersetzt. Die von Mme Pilet patronierte Veranstaltung bringt einen Sammelertrag von 7300 Franken ein – mehr als das Doppelte der von Pilet geschätzten Summe.

      Im April erhält Pilet einen dreisten Brief, in dem Beck sich erstaunt zeigt, dass sein Verband bisher von Madame Pilet-Golaz keinen Scheck erhalten habe:

      Vielleicht ist diese Summe irrtümlicherweise an eine andere Institution ausbezahlt worden, obwohl unsere Organisation die einzige ist, die die Rückkehrer hier in der Schweiz zusammenfasst. Unser Verband zählt gegenwärtig Vereine, deren Mitglieder in die Tausende gehen. Die Mehrheit davon ist wegen des Kriegs in einer kritischen Lage, und es besteht grosse Dinglichkeit, ihnen zu helfen, nachdem die existierenden Organisationen nichts tun und die offizielle Hilfe leider ungenügend ist.

      Postwendend informiert Pilet Beck, dass er persönlich die erwähnte Summe von Madame Pilet erhalten und dann das Geld an die Zentralstelle und die Pro Juventute überwiesen habe.

      Beck lässt sich nicht entmutigen. Er druckt sein Büchlein mit 20 Marken, auf denen Soldaten in fremden Diensten – «Reproduktionen aus der berühmten Pochon-Sammlung in der Landesbibliothek» – abgebildet sind, und verkauft es für 2 Franken. Um die hundert, meist erstrangige Schweizer Unternehmen, angeführt von Nestlé, haben die Druckkosten bezahlt. Über die Verwendung des bei der Aktion erzielten Gewinns braucht Monsieur Beck niemandem Rechenschaft ablegen.

      19. Umschiffte Klippen

      Zwei Fragen beschäftigen im Februar 1940 die eidgenössischen Räte: 1. Wer soll als Nachfolger Mottas in den Bundesrat gewählt werden? 2. Soll der Bundesratsbeschluss über die Ordnung des Pressewesens – auch Neutralitätsverfügung oder Zensurartikel genannt – in Kraft bleiben oder aufgehoben werden?

      Die Motta-Nachfolge ist Gegenstand von Rangeleien und Ränkespielen. Aus staats- und aussenpolitischen Erwägungen drängt sich die Wahl eines Tessiner Konservativen auf. Im allseits geachteten Finanzexperten Ruggero Dollfus, dem Generaladjutanten der Armee, hat die Tessiner Kantonspartei einen Mann von Format zur Verfügung. Doch dann bringen Rivalen in der eigenen Kantonspartei, Tessiner Liberale, Walliser und Freiburger Konservative, die selber gerne einen eigenen Bundesrat hätten, die Kandidatur des in einem Schloss im bernischen Kiesen wohnenden schwerreichen, überdies protestantischen Bankiers zu Fall.

      Es wird über mögliche weitere Vakanzen diskutiert. Kann der kranke Obrecht weitermachen? Ist Minger oder Baumann amtsmüde? Allerhand Kombinationen wären bei einer Zweierwahl denkbar, auch der Einbezug der Sozialisten. Weil jedoch kein anderer Bundesrat zurücktritt, präsentiert «Königmacher» Heinrich Walther den in Bern kaum bekannten Tessiner Staatsrat Enrico Celio. Walther trägt den Ruf des Königmachers zurecht. Der 78-jährige Luzerner ist seit 1919 Fraktionschef der Katholisch-Konservativen und als solcher steuert er seither erfolgreich die Bundesratswahlen. Pilet wie auch die Kollegen Minger, Etter, Wetter und Baumann verdanken ihre Wahl der Unterstützung durch Walther. Der Luzerner ist zudem Verwaltungsratpräsident der SBB und des Parteiblatts Vaterland.

      Celio, dessen Name Walther gewissermassen aus dem Ärmel geschüttelt hat, ist ein Verlegenheitskandidat. Freisinnige halten ihn für «eine wahre Null». Er sei einzig fähig, «einige schöne Phrasen zu dreschen, den Damen Augen zu machen und zu nichts anderem». Walther kann den sprachgewandten Juristen schliesslich dem Parlament als «Persönlichkeit von hoher Kultur» und vornehmem Charakter verkaufen. Am 22. Februar wird Celio mit 118 Stimmen gewählt. Die Journalisten, denen er sich später vorstellt, finden ihn «sympathisch».

      Die Auseinandersetzung um die von der Abteilung Presse und Funkspruch ausgeübte Zensur schlägt weiter hohe Wellen. Muss die Presse «Gesinnungsneutralität» üben, um die Nazis, vor allem den allmächtigen «Führer», nicht zu reizen? Können «freche» Zeitungsartikel gar einen deutschen Einmarsch in die Schweiz provozieren oder zumindest rechtfertigen?

      Im Nationalrat kritisieren führende Sozialdemokraten das «Übergewicht der bürgerlichen Behörden über die Militärgewalt». Eine neuerliche heftige Debatte über die heikle Zensurfrage droht das Klima zwischen Presse und Armee wie auch zwischen Parlament und Bundesrat zu vergiften.

      Im Vorfeld der Zensurdebatte im Nationalrat versucht Markus Feldmann in einem Gespräch mit Pilet die «dramatisch zugespitzte Situation» zu entschärfen. Der Bundesratsbeschluss über das Nachrichtenwesen, meint Feldmann, sei «unpraktikabel geworden, da politisch ungenügend orientierte Offiziere mit Befehlsgewalt durchsetzten, was ihnen geeignet scheine, die Beziehungen zu Deutschland positiv zu beeinflussen ». Man müsse einen Eclat im Plenum des Nationalrats «wenn irgendwie möglich verhindern».

      Wie Feldmann in seinem Tagebuch festhält, zeigt Pilet «grosses Verständnis» und ist im Übrigen «sehr offenherzig». Der Bundespräsident habe ihm ungefähr Folgendes erklärt:

      «Die Regelung, welche die Armee mit politischen Funktionen belastet, ist in der Tat fragwürdig und ich war im Grunde immer dagegen. Dass man die Sache trotzdem so geordnet hat, liegt in zwei Ursachen begründet: Das politische Departement war seit langem nicht mehr so geführt, wie es hätte geführt sein sollen (wegen der Erkrankung Mottas); im Justizdepartement war man in keiner Weise auf die Erfordernisse des Zustands der bewaffneten Neutralität vorbereitet. Im Militärdepartement nimmt Bundesrat Minger von jeher zu sehr Rücksicht auf «die Obersten». So hat der Bundesrat aus einer Art «Hilflosigkeit» heraus der Armeeleitung Aufgaben angehängt, zu deren Lösung sie in keiner Weise geeignet ist.»

      Pilet hält nichts von der sogenannten «Blutschuldthese», wonach böse Zeitungsartikel eine Kriegsursache werden könnten. Feldmann zitiert ihn so:

      «Was die Einstellung zu Deutschland betrifft, so stehe auch ich grundsätzlich auf dem Standpunkt, dass Schwäche und Nachgiebigkeit nichts nützen; sind keine Ursachen zum Kriege vorhanden, so wird man in Berlin nicht in Verlegenheit sein, sie zu erfinden.»

      Am nächsten Tag findet eine von der parlamentarischen Pressegruppe verlangte «dringende» Aussprache statt, an der die Bundesräte Pilet,