Obschon die Armee ausschlaggebend ist, sagt Pilet, genügt sie in Zeiten, wo der Krieg total geworden ist, allein nicht. Ein wichtiges Industriezentrum ist heute so exponiert wie die Front. Krieg wird auch im Hinterland gewonnen. Enge Zusammenarbeit zwischen Militär und Zivil ist unerlässlich. «Was haben wir als Zivilisten zu tun? Zahlen.» Es genüge nicht zu zahlen, warnt Pilet, man müsse auch arbeiten, denn einzig die Arbeit halte die Produktion in Gang. Unsere Wirtschaft leide schwer unter den gegenwärtigen internationalen Umwälzungen. Der Einzelne dürfe nicht zu sehr auf die Hilfe des Staats bauen, sonst breche dieser unter der Last zusammen: Je länger der Krieg daure, so Pilet weiter, desto grösser das Leiden und die Entbehrungen. Dann werde die geistige Landesverteidigung wichtig. Was heisst geistige Landesverteidigung?
Es ist der Widerstand gegen den Nervenkrieg, diesen Krieg, von dem man viel spricht und schreibt, von dem einige glauben, er sei entscheidend. Das Schweizervolk ist ihm ebenfalls ausgesetzt. Wie es davor schützen? Indem es solid wie der Granit seiner Berge den nationalen Zusammenhalt behält.
Pilet kommt, wie schon in früheren Reden, auf die Mission zu sprechen, die von der Schweiz auf der Welt zu erfüllen ist – «trotz ihrer Neutralität oder eben gerade wegen ihrer Neutralität». Diese sei nicht, wie «oberflächliche Geister» glaubten, ein egoistischer Schutzschild, sondern eine innere und äussere Notwendigkeit. Drei Jahrhunderte Geschichte zeigten dies. Die Neutralität sei gewollt – nicht nur in unserem Interesse, sondern im Interesse ganz Europas:
Sie auferlegt uns Pflichten, vor deren Erfüllung wir nie zurückgewichen sind und nie zurückweichen werden: die der wirksamen Landesverteidigung und der strikten Unparteilichkeit. Unsere Neutralität ist noch mehr: Sie ist das Bindeglied zwischen grossen Zivilisationen, den hohen Kulturen, die sich Europa teilen. Wir erbringen den Beweis, dass Menschen verschiedener Zivilisationen und Kulturen, Rassen, Sprachen, Religionen in Frieden und Liebe zusammenarbeiten können.
Habt Mut, behaltet den Glauben. Ich habe es euch gesagt und ich wiederhole es: Das Böse wird immer bezwungen. Der Friede und die Liebe werden auf lange Sicht den Sieg davontragen. So hat es Gott gewollt und Gott befiehlt. Vertrauen wir uns Ihm an und möge er unser Land schützen.
Eine eindrückliche Rede. Unter ihrem unmittelbaren Eindruck schreibt der Lausanner Anwalt Jean Spiro dem befreundeten Bundespräsidenten:
Wenn der Himmel schwarz ist, wenn am Horizont der Sturm droht, quaerens quem devoret [suchend, wen er verschlinge], dann ist die Mannschaft glücklich, auf ihrem Steuersitz einen Kapitän in guter physischer und moralischer Gesundheit zu sehen. Die Kugeln werden von hinten genau so wie von vorne töten; nutzlos vor dem Unheil zu fliehen; man muss es mit dem Bajonett angreifen, dies ist die einzige Chance, sich heil und gesund am andern Ufer wiederzufinden.
14. Durchzogene Festtage
Die Pilets feiern Weihnachten 1939 in ihrem Bauernhaus in Essertines-sur-Rolle. Der Bundesrat hat das 14 Hektaren Land umfassende Gut Les Chanays 1932 im Namen seiner Frau gekauft und in verschiedenen Etappen renoviert. Es ist kein stolzer Hof, wie ihn sein Kollege Minger in Schüpfen besitzt. Kein herrschaftlicher Landsitz wie derjenige von General Guisan in Pully. Eher ein bescheidenes Bauernhaus ohne Komfort, ohne spektakuläre Sicht, abgelegen hinter der Hügelkette des Genfersees, abseits der Hauptverkehrswege. Les Chanays ist Pilets Refugium, in das er sich zurückzieht, um nachzudenken und zu lesen. Er macht dort gerne Spaziergänge und plaudert mit den Bauern.
Zuerst liess er das Gut durch einen Pächter bewirtschaften, seit April 1938 tut er dies mit Hilfe Frédérics, seines maître valet – Meisterknechts – selber. Er bestimmt, was auf welchen Feldern angesät oder gepflanzt wird – Weizen, Hafer, Gerste, Kartoffeln. Er sagt Frédéric, welche landwirtschaftlichen Geräte und welche Düngemittel er kaufen muss, wie die Obstbäume zu behandeln sind. Besondere Beachtung schenkt Pilet den Tieren – 2 Pferde, 3 Rinder, 6 Kühe, 1 Stier, 5 Schweine, 30 Geflügel. Am Heiligen Abend macht er sich Notizen über nennenswerte, den Betrieb betreffende Ereignisse der vergangenen Wochen.
18.9.39 Chamois wirft ein Kalb, aufgezogen unter dem Namen Gameline (rot und weiss).
Pilet hat selber seinen Kühen ihre Namen gegeben. Warum «Gameline»? Generalissimus Maurice Gamelin ist der Oberbefehlshaber der französischen Armee, auf den man auch in der Romandie grosse Stücke hält. Pilets Stier heisst Franco. Heimliche Bewunderung für den Diktator oder – wohl eher – weil man Stiere unweigerlich mit dem spanischen Stierkampf in Verbindung bringt?
9.11.39 Baronne kalbt und wirft einen Jungstier, der fünfzehn Tage später geschlachtet wird. (Lungenentzündung?)
Nachdem Anfang Dezember ein weiteres Jungkalb wegen Lungenentzündung abgetan werden muss, verschreibt der Veterinär für das nächste Kalben Desinfektion des Stalls und Impfung. Er pflegt die unglücklich ausgerutschte Bruyère, die sich am Knie verletzt hat, mit Heilsalbe und Kalzium. Die Heilung wird dauern. Die Stute Négrette wird am 4. Dezember ins Militär eingezogen und einem Füsilierbataillon in Schwyz zugeteilt.
Am 31. Dezember 1939 feiert Marcel Pilet-Golaz seinen 50. Geburtstag. Schon am nächsten Tag reist er nach Bern zurück, um am strahlend schönen Neujahrstag die Gäste zum traditionellen Neujahrsempfang zu begrüssen. Tags darauf rückt der 19-jährige Jacques in Lausanne in die Infanterierekrutenschule ein. Es wird einsam werden am Scheuerrain. Die Mutter, die ihm beim Packen geholfen hat, macht sich Sorgen wegen der Gesundheit des Juniors. Der Winter ist besonders kalt und nass. Die Pilets erinnern sich an den Grippe-November 1918. Die Eltern ermahnen Jacques, keine feuchten Kleider zu tragen und die Wäsche zu wechseln. Der angehende Füsilier wird das ganze Jahr 1940 im Dienst stehen: Rekrutenschule, Unteroffiziersschule, Abverdienen, Offiziersschule, Abverdienen. Nicht immer kommt er an Wochenendurlauben nach Bern, sondern bleibt in Lausanne bei Verwandten.
Auf den Bundespräsidenten wartet eine grosse Arbeitslast. Obrecht, der Vizepräsident und Chef des mit Aufgaben überhäuften Volkswirtschaftsdepartements, fällt weiter aus. Der Solothurner erholt sich nur langsam von seinem Herzinfarkt und wird in den Protokollen der Bundesratssitzungen als «abwesend (leidend)» gemeldet. Minger vertritt ihn.
Seit Kriegsausbruch verhandelt die Schweiz separat mit Deutschland, Frankreich, England und dem «nichtkriegführenden» Italien, um Abkommen über Handels-, Transport- und Kreditfragen abzuschliessen. Der Bundesrat bemüht sich, die Handelswege ins Ausland offen zu halten, um Nahrungsmittel und Rohstoffe in die Schweiz zu bringen. Die Schweiz ist nicht selbstversorgend. Ohne eingeführtes Getreide würde das Volk hungern, ohne eingeführte Kohle Fabriken stillstehen. Die Ausfuhr von in der Schweiz produzierten Halb- und Fertigfabrikaten hält die Wirtschaft in Gang und bringt Arbeit.
Es ist im Interesse des Reichs, den Handelsverkehr mit der Schweiz auch im Krieg aufrechtzuerhalten. Bereits am 24. Oktober einigt man sich auf ein Abkommen, das die deutschen Clearingschulden abbauen soll, was der Schweiz erlaubt, ihre Warenlager zu füllen. Für den Gegenwert seiner für die Schweiz lebenswichtigen Kohlen- und Eisenlieferungen kann Deutschland beliebig schweizerische Waren einkaufen.
Viel schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit Frankreich und England. Weil die Westmächte militärisch zu schwach sind, um an der Westfront offensiv zu werden, konzentrieren sie sich auf den See- und Handelskrieg. Sie versuchen, die deutsche Wirtschaft zu schädigen und den Feind in Versorgungsschwierigkeiten zu bringen. Engländer und Franzosen wollen nicht wieder einen langjährigen blutigen Schützengrabenkrieg wie 1914–1918, bei dem sie eine ganze Generation verloren. Besser, man hungert die Deutschen aus. Vielleicht stürzt das Volk dann sein verbrecherisches Regime.
In ihrer Blockadepolitik gegen das Reich gehen die Alliierten mit den Neutralen nicht zimperlich um. Frankreich konfisziert Handelsgüter mit Bestimmungsort Schweiz. Die Westmächte wollen der Schweiz ein sehr restriktives Abkommen aufzwingen, das die Einfuhr einer ganzen Reihe von Waren verhindern soll. In Paris muss sich Minister Stucki mit der französischen Bürokratie herumschlagen.
Seit dem 22. November sind die Verhandlungen unterbrochen. Als Stellvertreter des kranken Obrecht lädt Minger Bundespräsident Pilet-Golaz, Finanzminister Wetter und die von Minister Jean Hotz