für aussergewöhnlich halten, nicht auf brüske Weise die Absichten einer kriegsführenden Partei ändern können. Sie könnte dann verleitet sein, mit einem plötzlichen Gewaltstreich, dessen Opfer wir wären, einen dieser verzweifelten Auswege zu finden, die manchmal, wie es die Geschichte zeigt, die Ultima ratio eines militärischen Führers sind.
Für Savary – und bestimmt auch für Pilet – besteht kein Grund zu einer Kriegspsychose und zur Furcht vor einer Invasion. 1946 wird Pilet in einem Bericht an seinen Nachfolger als Aussenminister, Max Petitpierre, schreiben:
Nachdem die Teilung von Polen vollendet war, konnte man sich die Frage stellen, ob vor dem Winter wichtige Operationen im Westen stattfinden würden. Die Truppenkonzentrationen der Wehrmacht beunruhigten ein wenig unsere öffentliche Meinung und beschäftigte, wie es sich gehörte, unseren Generalstab. Aber tatsächlich waren sie zusammengezogen, um Holland und Belgien zu bedrohen. Wir sind in jener Zeit keiner besonderen Gefahr ausgesetzt gewesen.
Erst nach Ende des Kriegs wird die Welt erfahren, dass in der ersten Novemberwoche 1939 eine Gruppe von deutschen Oppositionellen in der Heeresleitung, der Abwehr und im Aussenamt bereit waren, einen Staatsstreich zur Beseitigung des Hitler-Regimes auszulösen. Kein hoher Offizier im Heer glaubte an den Erfolg der von Hitler befohlenen Westoffensive. Einige sprachen von Wahnsinn. Als Hitler allen militärischen und politischen Gegenargumenten gegenüber taub blieb, sah Generalstabschef Halder nur noch eine Beseitigung des Regimes als Mittel zur Verhinderung der von ihm für sicher gehaltenen Katastrophe. Mit Tränen in den Augen sagte er Ende Oktober einem Mitverschwörer, «er sei seit Wochen mit der Pistole in der Tasche zu Emil gegangen, um ihn evtl. über den Haufen zu schiessen». Emil war der Deckname, den seine Gegner Hitler gaben.
Halder suchte im Heer, in der Abwehr unter Admiral Canaris und im Auswärtigen Amt nach Bundesgenossen für den Putsch. Hohe Heerführer, Geheimdienstleute und Diplomaten waren eingeweiht und gewillt, sich der Verschwörung anzuschliessen, so, wenn auch zögernd, Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Über Mittelsmänner bemühte man sich, von Chamberlain die Zusicherung zu erhalten, dass die Engländer mit einer neuen Regierung einen gerechten Frieden schliessen würden. Als interimistischer Staatschef war der von Hitler abgesetzte Vorgänger Halders als Generalstabschef des Heers vorgesehen, Generaloberst a.D. Ludwig Beck.
Alles war für den Staatsstreich bereit, der ausgeführt werden sollte, sobald Hitler den Befehl für den Angriff im Westen geben werde. Am 5. November gab der Führer diesen Befehl. Tags darauf ging der in Halders Pläne eingeweihte und zum Mitmachen bereite Oberbefehlshaber des Heers, von Brauchitsch, zu Hitler, um ihm ein letztes Mal seine Bedenken gegen die Westoffensive vorzutragen. Hitler unterbrach ihn sofort, überhäufte ihn tobend mit Vorwürfen und drohte den «Geist von Zossen» erbarmungslos auszurotten. Zossen war das Hauptquartier des Heers. Dann drehte Hitler sich brüsk um und verliess den Saal. Sekunden später rannte ein kreidebleicher und zitternder Brauchitsch zu dem draussen wartenden Halder und berichtete ihm von Hitlers Drohung. Für Halder war das Spiel aus. Sofort gab er Anweisung, alle kompromittierenden Dokumente zu vernichten. Die Verschwörung brach in sich zusammen.
Halder und seinen Gesinnungsgenossen blieb als einziger Ausweg, mit allerlei List und neuen Argumenten über ungenügendes Material oder schlechtes Wetter bei Hitler immer wieder Verschiebung des Angriffsdatums auf den Frühling zu erreichen. Im den Wintermonaten 1940 wird dann der gleiche Halder als Generalstabschef den von Hitler gewünschten Plan «Gelb» verändern und verfeinern, bis auch er selber an die Möglichkeit eines von ihm zuvor für unwahrscheinlich gehaltenen Erfolges glaubt.
10. Alltag
Während die Schweizer Armeeleitung und die Presse immer wieder in Aufregung versetzt werden, während immer noch über hunderttausend Soldaten im Feld ihren eintönigen Dienst tun – hauptsächlich Gräben ausheben und Befestigungen bauen – nimmt das Alltagsleben in Stadt und Dorf seinen Lauf. Nach sechs Wochen Krieg schreibt Léon Savary, es brauche schon ein «Auge von aussergewöhnlichem Scharfblick», um festzustellen, dass wir in schweren Zeiten leben. Vielleicht bringe die Mobilmachung am Rande des Landes im täglichen Leben aller Art Veränderung, aber in der Bundesstadt Bern seien sie fast nicht bemerkbar:
Man trifft ein bisschen weniger junge Männer; aber schon gewöhnt man sich daran. Auch kann man kaum einen Schritt in den Gassen tun, ohne Offiziere in Uniform zu erblicken. Es wimmelt von Obersten. Die Majore spriessen zwischen den Pflastersteinen hervor. Viele von ihnen hatten schon geglaubt, sie würden nie mehr Dienst tun.
Die Stadt sei von unerschütterlicher Ruhe, findet der Journalist. Seit Ende August keine Kundgebungen, keine Unruhe, keine Panik. Die bernische Bevölkerung sei besonnen, diszipliniert und zuversichtlich. Höchstens, dass die Zeitungen aufmerksamer gelesen und die Kioske gestürmt werden, wenn Extrablätter auftauchen.
Kein Zeichen von Fieber. In den Trams und den öffentlichen Anlagen diskutiert man leidenschaftslos, man stellt sich Fragen über die unlösbaren Rätsel des Tages. Aber man denkt «schweizerisch», man nimmt einen einzig auf schweizerische Interessen ausgerichteten Standpunkt ein.
Die Bernerinnen, stellt Savary fest, bewiesen besondere Stärke, besonderen Fleiss. Um eine Tasse Tee versammelt, schneidern und nähen sie unermüdlich Hemden fürs Rote Kreuz. Vor dem Bundeshaus und anderen öffentlichen Gebäuden sind die Wachen verschwunden. Man braucht keine Sonderbewilligungen und Ausweise mehr, um in Ämter hineinzugehen.
Das Armeekommando hat Bern verlassen, ist aufs Land hinausgezogen «an einen Ort, den jeder kennt, aber den zu nennen verboten ist». Spiez am Thunersee.
Mitte November, zehn Wochen nach Kriegsbeginn: Die anfängliche patriotische Entschlossenheit beginnt zu erlahmen und macht helvetischem Missmut und Nörgelei Platz. Die Armee arbeitet an der Befestigung der vom General befohlenen Limmat-Verteidigungslinie. Die militärische Führung bemüht sich um die Moral der Truppe. Ausbildung und Übungen sollen Schlamperei verhindern. Die Soldaten träumen von der Rückkehr zu Familie und Beruf.
Der befürchtete Konjunktureinbruch hat sich nicht eingestellt. Die Versorgungslage bleibt zufriedenstellend, jedenfalls besser als in Deutschland. Frauen und Jugendliche verrichten Arbeiten, die bisher Männern vorbehalten waren. Im Departement Pilet hat man gelernt, mit reduziertem Personalbestand zu improvisieren. Die Post bewältigt anstandslos den Anfall von Briefen und Paketen, die den im Dienst stehenden Wehrmännern von den Lieben geschickt werden.
Ernsthafte Pannen sind im Departement Pilet selten. Die unvermeidlichen Reklamationen halten sich in Grenzen. Der Chef nimmt sie ernst. Aufmerksam liest Pilet die Kopien von drei Briefen, die ihm Militäreisenbahndirektor Paschoud, ein persönlicher Freund, den er 1931 aus Lausanne in die Generaldirektion SBB geholt hatte, zur Kenntnisnahme übermittelt hat. Erster Brief: Der bernische Regierungsstatthalter Matti beschwert sich über den Kriegsfahrplan. Er rechnet vor, dass die Strecke Meiringen – Zürich, «die im Auto bequem in zwei Stunden durchfahren wird», für jemanden, der Geschäfte in Zürich zu erledigen hat, unter Umständen zwei Tage braucht. In der gleichen Sekunde nämlich, um 23 Uhr 04, in der der letzte Zug aus Meiringen in Luzern eintrifft, fährt dort der letzte Schnellzug nach Zürich ab.
Die Bundesbahn kutschiert also das Volk zu ihrem eigenen Nachteil, aber im Interesse einiger Luzerner Wirte, in der Welt herum und arbeitet damit ihrer Konkurrenz, dem Automobil, direkt in die Hände. Wenn eine Privatperson derart «geschäften» würde, müsste sie riskieren, bevormundet zu werden.
Solche Zustände müssten verschwinden, denn schliesslich bezahle das Schweizervolk die Defizite der Bahn. Adressat der Beschwerde ist der kantonalbernische Eisenbahndirektor, Regierungs- und Nationalrat Robert Grimm. Der einflussreiche Magistrat und Sozialistenführer schickt eine Abschrift von Mattis Brief an Paschoud und fügt eine höfliche Bitte hinzu:
Wir wären Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn eine Verbesserung der erwähnten Zugverbindungen angeordnet werden könnte.
Wie Pilet den Konflikt löst, ist unbekannt. Vermutlich im persönlichen Gespräch. Mit Grimm wird er sich nicht angelegt haben, aber auch Paschoud will er nicht verärgern. Dieser, wie aus anderer Korrespondenz ersichtlich, leistet nämlich sonst einwandfreie Arbeit. Als Paschoud im Januar 1940 dem Bundesrat