gibt es keinen Sheriff oder Marshal. Warum fragen Sie nach einem Sheriff, Inez?«
»Nur so, nur so«, flüsterte sie und sah zu Boden. »Ein Sheriff würde fragen, woher er die Wunde hat, weshalb man auf ihn geschossen hat, oder?«
»Sicher – wenn einer in Wagon Creek wäre«, brummelte Jericho. »Er ist in Mexiko verwundet worden, nehme ich an.«
»Ja, zu Hause. Es war ein Bravado – ein schlechter Mensch, den man in diesem Land sucht. Darum will ich nirgendwohin, wo ein Sheriff ist. Mikel hat gesagt, er will in keine Stadt, er will keine Fragen gestellt bekommen. Das ist eine persönliche Sache zwischen Mikel und diesem Bravado gewesen – ganz persönlich, verstehen Sie, Señor Graves? Ich bin schuld gewesen, oh, dios, ich habe die Schuld, ich allein. Aber ich liebe ihn doch, nur ihn, und ich werde niemals einen anderen Mann lieben, niemals. Oh, mein Gott, wenn Mikel sterben muss, dann töte ich mich auch, ich will nicht mehr leben ohne ihn.«
»Na, na, nun mal langsam, Inez«, sagte Jericho besänftigend, als sie wieder zu schluchzen begann. »Mikel wird schon nicht sterben, wenn er heute noch die Kugel herausgeholt bekommt. Außerdem ist er ein zäher Brocken – und er liebt Sie genauso wie Sie ihn – wirklich?«
»Ja, ja, ich glaube, er liebt mich auch sosehr. Er hat gesagt, er wolle nicht an meinem Unglück schuld sein, er ginge besser fort, ganz weit fort, denn wenn er bliebe, würde er mir nur Unglück bringen. Er wollte nicht, dass ich mit ihm ritt, aber ich bin ihm gefolgt, ich habe gesagt, ich bringe mich um, wenn er mich nicht mitnimmt. Sie hätten ihn ohnehin verfolgt und …«
»So ist das – er wird also verfolgt«, sagte Jericho düster und hielt die Hand noch geschlossen, die er gerade unter der Weste hervorzog. »Deshalb ist er durch den Sturm mit Ihnen geritten und hat die Richtung geändert – die Verfolger damit abschütteln wollen, denn der Sturm muss jede Spur verwischt haben. Da war also ein Bravado, den man in diesem Land sucht – ein Mexikaner, oder war es ein Gringo – vielleicht Gus Flynn, der seit zwei Jahren irgendwo in Mexiko lebt und den man hier sucht? Hat Flynn auf Shannon geschossen?«
Er sah ihr mitten in das kreidebleich werdende Gesicht, in die großen dunkelbraunen Augen, die sich vor Entsetzen weiteten.
»Wer war es?«, frage Jericho messerscharf. »Flynn oder einer der Bravados, für die Flynn als Späher reitet, wenn die Kerle über die Grenze kommen? War es etwa der Mann, den wir nur als Don Carlos kennen, Inez, war es dieser Mann, dessen Bande die Grenze unsicher macht?«
Das Mädchen kauerte auf den Knien und sah auf Jerichos rechte Hand, die sich nun öffnete.
In der Hand lag der Marshalstern von Jerome.
»Chino Valley«, fuhr Jericho eisig fort. »Die Ranch der Shannons – sein Bruder John Adam, dort wollte er hin, oder? Jerome ist nur vierzig Meilen von Chino Valley entfernt. Die Shannons kamen manchmal nach Jerome, ich kenne sie alle – John Adam und Sue, seine Schwester. Ich habe seine Eltern gekannt und verdanke Mikel mein Leben. Ich bin der Marshal von Jerome, doch ich würde Mikel niemals verhaftet und eingesperrt haben, weil er keinen Mord begangen hat. Es war kein Mord, das weiß ich seit einigen Wochen, seit jemand aus Morenci, wo die Schießerei war, durch Jerome kam und zu John Adam Shannon wollte. Der Mann erzählte mir die Geschichte des Revolverduells zwischen Johnnie Aldrich, dem Sohn des Richters und dessen Freund Latman auf der einen und Mikel auf der anderen Seite der Mainstreet. Dieser Richter John Aldrich ist ein alter, verbohrter Mann, der nicht wahrhaben will, dass sein einziger Sohn nichts taugte. Er will auch nicht zugeben, dass sein hinterhältiger Sohn jenen Latman in Mikels Rücken schickte, damit der auf Mikel schoss, sobald er, Johnnie Aldrich, zum Revolver griff. Johnnie Aldrich plante einen Mord – der Sohn des reichen, angesehenen Richters, verstehen Sie? Ich weiß es – ganz Morenci weiß es und auch John Adam hat es erfahren und den US-Marshal auf meinen Rat hin mit der Untersuchung der Sache beauftragt. Wissen Sie, wie mächtig ein Richter sein kann, wenn er dazu noch reich ist und ihm die halbe Stadt mit einigen Minen gehört?«
»Oh – oh, Sie wissen, Sie haben gewusst …«
»Ja, ich habe es gewusst«, knurrte Jericho finster und steckte den Orden wieder in die Innentasche seiner Weste. »Da haben Sie etwas, Sie Närrin – na los, heben Sie ihn auf!«
Er ließ seine Rechte nur einmal zucken. Shannons schwerer Colt mit dem glatten dunklen Walnußkolben landete vor Inez Ramirez am Boden.
»Nun los!«, forderte Jericho das Mädchen auf. »Da ist sein Revolver, mit dem er angeblich mehr als zwanzig Menschen erschossen haben soll, dieser Revolvermann Mikel Shannon. Nehmen Sie ihn, erschießen Sie mich, wenn Sie mir nicht glauben, Inez! Ich habe Sie nicht angelogen, obwohl ich das von Ihnen nicht behaupten kann, denn Sie haben mich belogen. Der US-Marshal untersucht die Sache, sie kommt vor den Gerichtshof von Anzon, was noch Wochen oder sogar Monate dauern kann, weil die Absetzung eines Richters durch andere Richter eine verdammt eigenartige und langwierige Sache ist – überall auf dieser Welt, nehme ich an. Vielleicht setzt man bei Ihnen überhaupt nie einen Richter ab, oder? Bei uns dauert so etwas seine Zeit, ich kann es nicht ändern. Ich sage Ihnen, dieser Steckbrief wird außer Kraft gesetzt werden – nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Ich hätte Mikel niemals verhaftet, verstanden, Inez? So – und wenn Sie mir nicht glauben und trauen, dann nehmen Sie jetzt den verdammten Revolver und schießen Sie mich nieder. Nur – dann kann niemand mehr Mikel helfen – und sterben soll er doch nicht, oder?«
»No – nein, nein, er darf nicht sterben. Oh, dios, Sie sagen, Sie verdanken Mikel Ihr Leben, Señor Graves, doch es gibt viele Sheriffs und Marshals in Arizona, und der Steckbrief besteht doch, oder?«
»Himmel noch mal – in Wagon Creek ist keiner, dort wird man Mikel auch nicht kennen. Ich denke nicht, dass dort jemand lebt, der Mikel jemals begegnet ist. Wir werden sehen, ob man Mikel erkennt. Jetzt müssen wir ihn erst einmal hinschaffen. Und dann darf ich mich um den Doc kümmern, damit Mikel geholfen wird. Ich habe immer ein fiebersenkendes Mittel dabei, wenn ich unterwegs bin. Das flößen wir Mikel ein. Bevor ich jetzt losgehe und meinen Wagen herfahre, erzählen Sie mir noch, wer hinter Mikel her ist.«
Inez hob den Revolver auf und reichte ihn Jericho zurück.
»Ich traue Ihnen, Señor Graves«, sagte sie leise. »Das ist ein Wunder – der Himmel hat ein Wunder für Mikel und mich gemacht. Señor Graves, Mikel glaubt, dass sie alle hinter uns her sind – Don Carlos und Rual Sastre, der Mann, der auf Mikel schoss. Auch die anderen werden dabei sein, weil sich Carlos und Sastre vor Mikel fürchten – vor seinem Revolver und Gewehr. Sie werden alle nach uns suchen – alle, aber vielleicht Flynn nicht. Mikel sagt, Flynn täte das nicht, obgleich er für Carlos reitet. Flynn ist sein bester Freund, sein Blutsbruder, verstehen Sie?«
»Ich weiß das«, brummte Jericho. »So, Flynn nicht? Dachte ich doch, dass Mikel nach der Schießerei in Morenci über die Grenze und vielleicht zu Flynn geritten wäre. Nur ließ ich mir nicht träumen, dass ich Mikel begegnen könnte. Inez, warum ist man hinter Ihnen und Mikel her – warum?«
Das Mädchen senkte tief den Kopf.
»Es ist meine Schuld, bestimmt nur meine«, flüsterte Inez zitternd.
»Sastre – Carlos wollte, dass ich ihn heirate. Sastre und ich galten als verlobt, so gut wie verlobt, versprochen, verstehen Sie, Señor Graves? Ich habe Carlos immer gesagt, ich würde es nicht tun – ich habe Sastre nie gemocht. Und dann ist die Fiesta an Carlos’ Geburtstag gewesen – eine große Fiesta. Flynn und alle sind gekommen, auch Mikel. Er hatte den Arm noch in der Schlinge, durch den die Kugel dieses Latman in Morenci gefahren war. Er …, er hat mich angesehen, nur angesehen. Und ich habe gewusst, ich liebe ihn, ich will diesen Mann haben. Ich habe in seine Augen gesehen, verstehen Sie, Señor Graves?«
Du großer Geist, dachte Jericho. So ist das? Ein Mädchen von knapp zwanzig Jahren und Mikel, der Schweigsame, ich werde verrückt!
»Ich verstehe«, sagte er träge. »Mikel und Sie – kaum zu glauben, aber manchmal passieren die verrücktesten Dinge. Heißen Sie wirklich Ramirez oder ist der Name etwas länger, Inez?«
»Ich habe Sie belogen – es tut mir jetzt sehr leid, Señor Graves. Ich bin Inez Carmen Ramirez de San Sebastian