dann Miloradowitsch an, wie wenn er eine Erklärung für dieses Verhalten suchte; als er jedoch dessen ernstem, aber nichtssagendem Blick begegnete, schlug er mit trüber Miene die Augen nieder und begann wieder, seine Tabaksdose herumzudrehen.
»Eine Geographiestunde«, sagte er wie für sich, aber laut genug, um gehört zu werden.
Przebyszewski bog, indem er eine respektvolle, aber würdige Höflichkeit an den Tag legte, sein Ohr mit der Hand zu Weyrother hin und gab sich das Aussehen, als höre er mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Der kleine Dochturow saß mit bescheidener, eifriger Miene Weyrother gerade gegenüber und prägte sich, über die ausgebreitete Karte gebeugt, gewissenhaft die Disposition und das ihm unbekannte Terrain ein. Ein paarmal, wenn er nicht genau verstanden hatte, bat er Weyrother, die betreffenden Worte, besonders auch schwierige Namen von Dörfern, zu wiederholen. Weyrother erfüllte seinen Wunsch, und Dochturow machte sich Notizen.
Als das Vorlesen, das mehr als eine Stunde gedauert hatte, beendet war, hielt Langeron seine Tabaksdose wieder still und bemerkte, ohne Weyrother oder sonst jemand einzeln anzusehen, es werde doch seine Schwierigkeiten haben, eine solche Disposition durchzuführen, bei der die Stellung des Feindes als bekannt vorausgesetzt werde, während sie uns vielleicht in Wirklichkeit unbekannt sei, da der Feind sich in Bewegung befinde. Langerons Einwendung war begründet; aber es war offensichtlich, daß der Hauptzweck dieser Einwendung der war, dem General Weyrother, der seine Disposition mit solcher Selbstgefälligkeit vorgelesen hatte, als ob Schulknaben vor ihm säßen, zum Bewußtsein zu bringen, daß er nicht etwa lauter Dummköpfe, sondern Männer vor sich habe, von denen auch er in Kriegssachen etwas lernen könne.
Als der einförmige Klang der Stimme Weyrothers verstummt war, hatte Kutusow die Augen aufgemacht, wie ein Müller, der aufwacht, sobald der einschläfernde Ton der Mühlenräder eine Unterbrechung erfährt. Er horchte auf Langerons Äußerung hin, und als ob er sagen wollte: »Habt ihr immer noch diese Dummheiten vor?« schloß er schnell wieder die Augen und ließ den Kopf noch tiefer hinabsinken.
In der Absicht, Weyrother in seinem Stolz auf den von ihm entworfenen Schlachtplan recht tief zu verletzen, wies Langeron nach, daß Bonaparte, statt sich angreifen zu lassen, leicht selbst angreifen und dadurch diese ganze Disposition völlig wertlos machen könne. Weyrother antwortete auf alle Einwürfe mit einem überlegenen, geringschätzigen Lächeln, das er offenbar schon im voraus für jeden Einwurf in Bereitschaft hielt, ganz gleich, was jemand zu ihm sagen werde.
»Wenn er uns angreifen könnte, hätte er es heute getan«, sagte er.
»Sie meinen also, daß er nicht genug Streitkräfte besitzt?« fragte Langeron.
»Er kann höchstens vierzigtausend Mann haben«, antwortete Weyrother mit dem Lächeln eines Arztes, dem ein Quacksalber ein Heilmittel empfiehlt.
»Dann wird er also wohl unseren Angriff abwarten und seinem Verderben nicht entgehen«, erwiderte Langeron mit einem feinen, ironischen Lächeln und blickte wieder zum nahe bei ihm sitzenden Miloradowitsch hin, als suche er dessen Beistimmung.
Aber Miloradowitsch dachte in diesem Augenblick offenbar an nichts weniger als an das, worüber sich hier die Generale stritten. »Ei nun«, sagte er, »morgen auf dem Schlachtfeld werden wir über all diese Dinge ins klare kommen.«
Weyrother verzog wieder das Gesicht zu einem Lächeln, welches besagte, daß es ihm seltsam und komisch vorkomme, auf Einwendungen bei den russischen Generalen zu stoßen und ihnen Dinge beweisen zu müssen, von deren Richtigkeit er nicht nur selbst vollkommen überzeugt sei, sondern auch die Kaiser überzeugt habe.
»Der Feind hat seine Biwakfeuer ausgelöscht, und es ist von seinem Lager her ein ununterbrochenes Getöse zu hören«, sagte er. »Was bedeutet das? Entweder entfernt er sich (und das wäre das einzige, was wir zu fürchten hätten), oder er ändert seine Stellung.« Er lächelte. »Aber selbst wenn er eine Stellung bei Turas einnehmen sollte, würde er uns nur viel Mühe und Umstände ersparen, und alle unsere Anordnungen würden bis auf die geringsten Kleinigkeiten dieselben bleiben.«
»Wieso denn ...?« fragte Fürst Andrei, der schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, seine Bedenken auszusprechen.
Da wachte Kutusow auf, hustete und räusperte sich stark und blickte die Generale um sich herum an.
»Meine Herren, die Disposition für morgen, oder richtiger für heute, da es ja schon nach Mitternacht ist, kann nicht mehr geändert werden«, sagte er. »Sie haben sie gehört, und wir alle werden unsere Pflicht tun. Vor einer Schlacht ist aber nichts wichtiger ...« (er schwieg einen Augenblick) »als sich ordentlich auszuschlafen.«
Er machte Miene aufzustehen. Die Generale verbeugten sich und gingen. Auch Fürst Andrei ging weg.
Der Kriegsrat, bei dem es dem Fürsten Andrei nicht gelungen war, seine Meinung, wie er doch gehofft hatte, auszusprechen, hinterließ bei ihm eine peinliche Unklarheit und eine starke Unruhe. Wer recht hatte, Dolgorukow und Weyrother oder die Gegner des Angriffsplanes, Kutusow, Langeron und andere, das wußte er nicht. Aber war es denn wirklich dem Oberkommandierenden Kutusow nicht möglich gewesen, dem Kaiser direkt seine Meinung darzulegen? War das wirklich ein Zustand, an dem sich nichts ändern ließ? »Muß wirklich«, dachte er, »um solcher höfischen und persönlichen Rücksichten willen das Leben so vieler Tausende von Menschen und auch mein, mein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt werden?«
»Ja, sehr gut möglich, daß ich morgen falle«, sagte er sich. Und bei diesem Gedanken an den Tod wurde plötzlich eine ganze Reihe von Erinnerungen, von weit zurückliegenden, ihm überaus teuren Erinnerungen in seiner Seele wach: er dachte an seinen letzten Abschied von seinem Vater und von seiner Frau; er dachte an die ersten Zeiten seiner Liebe zu ihr! Er dachte an ihre Schwangerschaft, und er bedauerte seine Frau und sich selbst. In einem Zustand nervöser Rührung und Aufregung verließ er die Stube, in welcher er mit Neswizki wohnte, und ging vor dem Haus auf und ab.
Die Nacht war neblig, und durch den Nebel drang das Licht des Mondes geheimnisvoll hindurch. »Ja, morgen, morgen!« dachte er. »Morgen wird vielleicht das alles für mich zu Ende sein; alle diese Erinnerungen werden für mich nicht mehr vorhanden sein; alle diese Erinnerungen werden für mich keine Bedeutung mehr haben. Vielleicht werde ich morgen, ja, sicher werde ich morgen (das ahnt mir) zum erstenmal endlich die Möglichkeit haben zu zeigen, was ich leisten kann.« Und lebhaft vergegenwärtigte er sich die Schlacht und die schlimme Wendung, die sie nimmt, und die Konzentrierung des Kampfes auf einen Punkt und die Ratlosigkeit aller Befehlshaber. Und da ist nun endlich für ihn jener glückliche Augenblick gekommen, jenes Toulon, auf das er so lange gewartet hat. Fest und klar setzt er seine Meinung Kutusow und Weyrother und den Kaisern auseinander. Alle sind sie überrascht von der Richtigkeit seiner Kombination; aber niemand getraut sich, sie auszuführen; und da nimmt er nun ein Regiment, eine Division, macht aber zur Bedingung, daß niemand sich in seine Anordnungen einmischen dürfe; und nun führt er seine Division nach dem entscheidenden Punkt und erringt allein, er allein, den Sieg. »Aber der Tod und die Leiden?« fragte eine andere Stimme. Aber Fürst Andrei antwortete dieser Stimme nicht und schritt in Gedanken auf der Bahn des Erfolges weiter fort. Die Disposition der nächsten Schlacht entwirft er ganz allein. Der äußeren Stellung nach ist er erster Adjutant bei Kutusow; aber in Wirklichkeit wird alles von ihm allein ausgeführt. Diese nächste Schlacht gewinnt er auf diese Art ganz allein. Kutusow wird seines Amtes enthoben; an seine Stelle wird er ernannt ... »Nun, und dann?« fragte wieder die andere Stimme, »und dann, wenn du nicht vorher zehnmal verwundet, getötet oder um den Preis deiner Mühen betrogen bist, was dann?« – »Nun dann«, gab Fürst Andrei sich selbst zur Antwort, »ich weiß nicht, was dann weiter kommen wird; ich will es nicht wissen, und ich kann es nicht wissen; aber wenn ich nach solchen Zielen strebe, wenn ich nach Ruhm strebe, wenn ich von den Menschen gekannt, von den Menschen geliebt zu werden wünsche, so ist es ja doch nicht meine Schuld, daß ich danach strebe, einzig und allein danach strebe, einzig und allein dafür lebe. Ja, einzig und allein dafür! Ich werde das nie jemand sagen; aber, mein Gott, was soll ich dann anfangen, wenn ich nun einmal keinen andern Wunsch habe, als mir Ruhm und die Liebe meiner Mitmenschen zu erwerben? Tod, Wunden, der Verlust meiner Angehörigen, nichts kann mich schrecken. Und wie lieb und teuer mir auch viele Menschen sind (als die teuersten mein Vater,