als Schreibtisch, der voll von Rechnungen und anderem Papierkram war. Sie öffnete die Anrufanwendung auf dem Handy, wählte die Nummer, die sie auswendig kannte und wartete, während der Anruf umgeleitet wurde. Es dauerte mehrere Sekunden und sie dachte schon es würde nicht funktionieren, dass der Anruf nicht durchginge, doch endlich klingelte es.
Jemand nahm ab. Doch die Person sprach nicht.
„Ich bin’s”, sagte sie auf ukrainisch.
„Karina?” Die Frau am anderen Ende der Leitung klang verwirrt. „Warum rufst du diese Nummer an?”
„Ich brauche Hilfe, V.”
„Was ist denn?” drängte Veronika.
Karina wusste nicht, wo sie beginnen sollte. „Es gab da ein Treffen,” sagte sie, „zwischen Kozlovsky und Harris...”
„Ich habe die Nachrichten gesehen.” Veronika atmete ein, als sie verstand. „Du? Du warst die Dolmetscherin bei dem Treffen?”
„Ja.” Karina erzählte schnell, was geschehen war, von ihrer Zeit mit den beiden Präsidenten bis zu ihrer Flucht von dem Geheimdienstagenten. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, als sie sagte: „Wenn die mich finden, dann bringen sie mich um, V.”
„Mein Gott”, hauchte Veronika. „Karina, du musst das jemandem sagen, den du kennst!”
„Ich sage es dir. Verstehst du nicht? Ich kann damit nicht an die Medien. Die werden es unterdrücken. Die werden es verleugnen. Du bist die Einzige, der ich mit dieser Information vertrauen kann. Ich muss dir die Ohrringe bringen.”
„Du hast sie?” fragte Veronika. „Du hast das Treffen aufgenommen?”
„Ja. Jedes Wort.”
Ihre Schwester dachte einen langen Augenblick nach. „FIS hat eine Verbindung in Richmond. Kannst du da hinkommen?”
Veronika, Karinas zwei Jahr ältere Schwester, war eine Top Agentin des Auswärtigen Geheimdienstes FIS, die ukrainische Version der CIA. Es war Karina kein Geheimnis, das FIS mehrere Schläfer in den Vereinigten Staaten hatte. Der Gedanke, von ihnen beschützt zu werden, war anziehend, doch sie wusste, dass sie das nicht riskieren konnte.
„Nein”, sagte sie schließlich, „die erwarten, dass ich flüchte. Ich bin mir sicher, dass sie die Flughäfen und Highways gründlich überwachen.”
„Dann sage ich ihm, dass er zu dir soll -”
„Du verstehst nicht Veronika. Wenn die mich finden, töten sie mich. Und jeden, der bei mir ist. Dafür will ich nicht verantwortlich sein.” Ihre Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Als sie da in dem dunklen Büro eines zwielichtigen Handyshops stand, holten sie die Ereignisse der letzten paar Stunden schließlich ein. Doch sie konnte sich nicht von ihren Gefühlen überrumpeln lassen. „Ich habe Angst, V. Ich brauche Hilfe. Ich brauche einen Ausweg.”
„Ich lasse es nicht zu, dass dir etwas geschieht”, versprach ihre Schwester. „Ich habe eine Idee. Ich lasse unseren Kontakt einen anonymen Hinweis an die DC Metro geben, dass das Gespräch aufgenommen wurde -”
„Was? Bist du verrückt?” schnappte Karina.
„Und ich lasse es ihn auch an die Medien weitergeben.”
„Verdammt, V. Jetzt bist du völlig ausgerastet!”
„Nein. Hör mir zu, Karina. Wenn die glauben, dass du eine Aufnahme hast, dann kannst du sie zum Verhandeln verwenden. Ohne sie bist du so gut wie tot. Auf diese Weise wollen sie dich lebendig. Und wenn der Tipp aus Richmond kommt, dann glauben sie, dass du aus der Stadt geflüchtet bist. In der Zwischenzeit arbeite ich an einem Ausweg und bringe dich da raus.”
„Das ist zu heikel, um jemanden von dir zu schicken, der mich abholt”, sagte Karina. „Ich will nicht, dass jemand wegen mir kompromittiert oder getötet wird.”
„Aber du kannst das nicht alleine schaffen, sestra.” Veronika war einen Moment lang still, bevor sie hinzufügte, „Ich glaube, ich weiß, wer helfen kann.”
„FIS?” fragte Karina.
„Nein. Ein Amerikaner.”
„Veronika -”
„Ein ehemaliger CIA Agent.”
Das war es. Ihre Schwester war tatsächlich von Sinnen und Karina ließ es sie wissen.
„Vertraust du mir?” fragte Veronika.
„Vor einer Minute hätte ich noch ja gesagt...”
„Vertrau mir jetzt, Karina. Und vertraue diesem Mann. Ich sage dir, wo du hin musst und wann du da sein musst.”
Karina seufzte. Welche Wahl hatte sie schon? V. hatte recht. Sie konnte nicht alleine dem Geheimdienst, den Russen und jedem anderen, den sie hinter ihr herschickten, aus dem Weg gehen. Sie brauchte Hilfe. Und sie vertraute ihrer Schwester, auch wenn dieser Plan ihr aberwitzig vorkam.
„OK. Wie erkenne ich diesen Mann?”
„Wenn der immer noch gut ist, dann erkennst du ihn nicht, “ erwiderte Veronika, „aber er wird dich erkennen.”
KAPITEL FÜNF
Sara inspizierte sich im Badezimmerspiegel, während sie ihren Zopf zurechtzog. Sie hasste ihr Haar. Es war zu lang, sie hatte es seit Monaten nicht mehr schneiden lassen. Die Spitzen waren gespalten. Etwa sechs Wochen zuvor hatte sie es Camilla mit einer Tönung aus der Drogerie rot färben lassen. Auch wenn es ihr damals gefiel, so sah man jetzt ihre hellblonden Wurzeln, die sich an den ersten Zentimetern zeigten. Das sah einfach nicht gut aus.
Sie hasste das dunkelblaue Poloshirt, das sie zur Arbeit tragen musste. Es war ihre eine Nummer zu groß und auf der linken Brust stand “Swift Thrift”. Die Buchstaben waren ausgeblichen, die Ecken vom vielen Waschen zerfranst.
Sie hasste ihre Arbeit beim Secondhandladen, wo es ständig nach Mottenkugeln und abgestandenem Schweiß roch und sie vorgeben musste, nett zu unhöflichen Kunden zu sein. Sie hasste es, dass sie als Sechzehnjährige ohne High School Abschluss nicht mehr als neun Dollar die Stunde verdienen konnte.
Doch sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie war fast unabhängig.
Die Badezimmertür ging plötzlich auf, wurde von der anderen Seite aufgestoßen. Tommy hielt inne, als er sie vor dem Spiegel stehen sah.
„Was zum Teufel, Tommy!” rief Sara. „Ich bin hier drin!”
„Warum hast du die Tür nicht abgeschlossen?” erwiderte er.
„Sie war doch zu, oder nicht?”
„Beeil dich! Ich muss pinkeln!”
„Raus jetzt!” Sie drückte die Tür zu und ließ den älteren Jungen hinter ihr fluchen. Das Leben in einer Wohngemeinschaft war alles andere als glamourös, doch sie hatte sich in dem letzten Jahr, seit sie hier wohnte, daran gewöhnt. Oder war es schon länger? Dreizehn Monate oder so, berechnete sie.
Sie legte etwas Wimperntusche auf und inspizierte sich erneut. Das reicht, dachte sie. Trotz Camillas Bemühungen trug sie nicht gerne viel Makeup. Und außerdem wuchs sie immer noch.
Sie ging gerade rechtzeitig aus dem Bad, das zur Küche hinaus öffnete, um zu sehen, wie Tommy sich von der Spüle abwandte und seinen Hosenstall zumachte.
„Oh Gott”, zuckte sie zusammen, „bitte sag mir, dass du nicht gerade in die Spüle gepinkelt hast.”
„Du hast zu lange gebraucht.”
„Gott, du bist widerlich.” Sie ging auf den alten beigen Kühlschrank zu und nahm eine Flasche