Джек Марс

Rückruf Null


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zuckte erneut zusammen.

      An der Kühlschranktür hing eine magnetische Tafel mit sechs Namen in schwarzer Schrift, alle Mitbewohner. Unter jedem Namen stand eine Nummer. Alle sechs waren für einen Teil der Miete verantwortlich und teilten sich auch die Rechnungen monatlich. Konnten sie ihren Teil nicht zahlen, dann hatten sie drei Monate Zeit, um ihre Schulden zu tilgen, sonst mussten sie ausziehen. Die Nummer unter Saras Namen war die größte.

      Die Wohngemeinschaft war wirklich nicht der schlimmste Ort in Jacksonville. Das alte Haus brauchte ein paar Reparaturen, doch es war kein Desaster. Es gab vier Schlafzimmer, drei von ihnen waren von jeweils zwei Personen bewohnt und das vierte wurde als Aufbewahrungs- und Arbeitszimmer benutzt.

      Ihr Vermieter, Mr. Nedelmeyer, war ein deutscher Typ, Anfang vierzig, der mehrere Immobilien wie diese in der Jacksonville Innenstadt besaß. Er war ziemlich entspannt, wenn man es sich genau überlegte. Er bestand sogar darauf, dass sie ihn einfach ,Nadel’ nannten, was in Saras Ohren wie ein Name für einen Drogenhändler klang. Doch mit Nadel konnte man einfach umgehen. Es war ihm egal, ob Freunde über Nacht blieben oder ob sie hin und wieder eine Party veranstalteten. Drogen waren ihm egal. Er hatte nur drei Hauptregeln: wirst du verhaftet, dann fliegst du raus. Kannst du nach drei Monaten nicht bezahlen, dann fliegst du raus. Greifst du einen Mitbewohner an, dann bist du draußen.

      Während sie da auf die Tafel am Kühlschrank starrte, machte Sara sich um die zweite Regel Sorgen. Doch dann hörte sie eine Stimme in ihrem Ohr, die sie über Regel drei beunruhigte.

      „Was ist denn los kleines Mädchen? Hast du Angst wegen der großen Nummer da unter deinem Namen?” Tommy lachte, als ob er einen tollen Witz erzählt hätte. Er war neunzehn, schlaksig und knöchern und hatte auf beiden Armen Tätowierungen. Er und seine Freundin Jo teilten sich eines der Schlafzimmer. Keiner von ihnen arbeitete. Tommys Eltern schickten ihm jeden Monat Geld, mehr als genug, um ihre Ausgaben in der Wohngemeinschaft zu decken. Den Rest gaben sie für Kokain aus.

      Tommy hielt sich für einen knallharten Typen. Doch er war nur ein Vorstadtkind in den Ferien.

      Sara drehte sich langsam um. Der ältere Junge war fast dreißig Zentimeter größer als sie und stand nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. „Ich glaube”, sagte sie langsam, „du solltest ein paar Zentimeter zurücktreten.”

      „Ansonsten?” grinste er bösartig. „Willst du mich schlagen?”

      „Natürlich nicht. Das wäre gegen die Regeln.” Sie lächelte unschuldig. „Aber weißt du, kürzlich nahm ich ein kleines Video auf. Du und Jo, wie ihr Kokain vom Kaffeetisch geschnupft habt.”

      Ein verängstigter Blick huschte über Tommys Gesicht, doch er blieb hart. „Na und? Nadel ist das egal.”

      „Das hast du recht, ihm ist das egal.” Sara flüsterte weiter. „Aber Thomas Howell, der bei Binder & Associates arbeitet? Dem ist das vielleicht nicht egal.” Sie lehnte ihren Kopf zur Seite. „Das ist dein Papa, stimmt’s?”

      „Woher...?” Tommy schüttelte seinen Kopf. „Das würdest du nicht wagen.”

      „Vielleicht nicht. Liegt ganz an dir.” Sie ging an ihm vorbei, rempelte ihn rau mit ihrer Schulter dabei an. „Hör auf, in die Spüle zu pinkeln. Das ist widerlich.” Dann ging sie nach oben.

      Sara hatte Virginia mehr als ein Jahr zuvor als eine verängstigte, naive Fünfzehnjährige verlassen. Nur wenig mehr als ein Jahr war vergangen, doch sie hatte sich verändert. Im Bus von Alexandria nach Jacksonville hatte sie sich zwei Regeln auferlegt. Die erste Regel besagte, dass sie niemanden um nichts bitten würde, am wenigsten ihren Vater. Und sie hielt sich daran. Maya half ihr hin und wieder ein wenig aus und Sara war dankbar - doch sie bat nie darum.

      Die zweite Regel bestand darin, dass sie sich von niemandem etwas sagen ließe. Sie hatte schon zu viel mitgemacht. Sie hatte Dinge gesehen, über die sie niemals sprechen könnte. Dinge, die sie Nachts immer noch nicht schlafen ließen. Dinge, die sich ein Typ wie Tommy niemals vorstellen könnte. Sie war nicht wie andere Teenager, voller Angst. Sie hatte ihre eigene Vergangenheit überwunden.

      Oben angelangt öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer, das sie und Camilla teilten. Es war wie ein Zimmer im Studentenwohnheim eingerichtet: zwei Doppelbetten, die an entgegengesetzten Wänden standen, mit einem Gang und einem geteilten Nachttisch dazwischen. Sie hatten eine kleine Kommode und einen Schrank, den sie ebenfalls teilten. Ihre Mitbewohnerin lag noch im Bett. Sie lag wach auf dem Rücken und scrollte durch die sozialen Netzwerke auf ihrem Handy.

      „Hey”, gähnte sie, als Sara eintrat. Camilla war achtzehn und zum Glück sehr angenehm. Sie war die erste Freundin, die Sara in Florida gewann. Es war ihre Internetanzeige für eine Mitbewohnerin, die Sara überhaupt hierher gebracht hatte. Sie verstanden sich gut. Camilla brachte ihr sogar bei, zu fahren. Sie brachte ihr bei, wie man Wimperntusche auflegte und welche Kleidung ihrem schmalen Körper gut stand. Sara hatte eine Menge neues Vokabular und Angewohnheiten von ihr gelernt. Fast wie eine große Schwester.

      Fast wie eine große Schwester, die dich nicht mit einem Mann alleine lässt, den du nicht aushältst.

      „Hey du. Steh auf, es ist schon fast zehn.” Sara nahm ihre Handtasche vom Nachttisch und schaute nach, ob sie alles hatte, was sie brauchte.

      „Es wurde gestern Nacht bei mir spät.” Camilla arbeitete als Bedienung und Barkeeper bei einem Fischrestaurant. „Aber schau mal, ich hab das Bündel hier bekommen.” Sie zeigte ihr ein dickes Bündel Bargeld, das Trinkgeld der letzten Nacht.

      „Toll”, murmelte Sarah, „ich muss zur Arbeit.”

      „Cool. Ich habe heute Abend frei. Soll ich dir wieder das Haar machen? Sieht ein bisschen zerzaust aus.”

      „Ja, ich weiß, sieht Scheiße aus”, erwiderte Sara verärgert.

      „Aua, feindlich.” Camilla zog die Stirn in Falten. „Wer hat dir denn die Laune versauert?”

      „Tut mir leid. War nur Tommy, der sich wie ein Esel benimmt.”

      „Vergiss den Typen. Das ist doch ein Angeber.”

      „Ich weiß”, seufzte Sara und rieb sich über ihr Gesicht. „OK. Ich gehe zur Maloche.”

      „Wart mal. Du bist ganz schön nervös. Willst du ein Pillchen?”

      Sara schüttelte ihren Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung.” Sie ging zwei Schritte auf die Tür zu. „Scheiß drauf, her damit.”

      Camilla grinste und setzte sich im Bett auf. Sie griff nach ihrer eigenen Tasche und zog zwei Dinge heraus - eine orangefarbene Rezeptflasche ohne Etikette und einen kleinen Plastikzylinder mit einer roten Kappe. Sie schüttelte eine längliche, blaue Xanax aus der Flasche, ließ sie in die Tablettenmühle fallen, drehte die rote Kappe fest zu und zerdrückte dabei die Tablette zu Pulver. „Hand her.”

      Sara streckte ihre rechte Hand aus, mit der Innenfläche nach unten, und Camilla schüttelte das Puder auf die fleischige Brücke zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Sara hielt ihre Hand an ihr Gesicht, verschloss ein Nasenloch und schniefte.

      „Gutes Mädchen.” Camilla schlug ihr sanft auf den Hintern. „Jetzt aber raus hier, bevor du noch zu spät kommst. Bis heute Abend.”

      Sara machte das Friedenszeichen, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie konnte das bittere Puder in ihrer Kehle schmecken. Es dauerte nicht lang, bis es wirkte, doch sie wusste, dass eine Tablette sie kaum durch den halben Tag brächte.

      Draußen war es selbst für Oktober noch sehr heiß, so wie die Spätsommer, die sie manchmal in Virginia hatten. Doch sie gewöhnte sich an das Wetter. Sie mochte den Sonnenschein, der fast das ganze Jahr währte, es gefiel ihr, so nah am Strand zu sein. Das Leben war nicht immer toll, doch es war viel besser, als es vor zwei Sommern war.

      Sara war kaum aus der Tür, als ihr Handy in ihrer