Jetzt komm, is ja scho halb acht vorbei. Steh auf, sonst kommst’ zu spät. Der Papa is auch scho wieder weg.“
„Der Papa war da? Wieso? Warum hast nix g’sagt, Mutti? Ich wollt’ ihm doch das neue Stückl auf der Ziehharmonika vorspielen.“
„Geh, jetzt in aller Früh. Außerdem hat er sich nur seinen grauen Mantel g’holt, weil’s Schnee ang’sagt haben im Radio. Dann hat er’s schon wieder eilig g’habt, daß er weg kommt. In die Firma, zu dieser … dieser …“ Diese … diese … blieb wieder einmal wie ein ekelerregender Gestank in der Luft hängen.
„Tu weiter, jetzt“, setzte Hansis Mutter plötzlich ziemlich gereizt nach.
Wer ist das, diese … diese …? fragte sich Hansi wie schon so oft in den vergangenen Wochen, während er unglücklich durch die ersten Schneeflocken des Jahres zur Schule stapfte. Immer, wenn von ihr die Rede ist, werden alle komisch. Die Mutti, die Oma, und mit dem Papa kann man schon gar nicht reden. Seit er so viel arbeiten muß, laßt er sich eh nur mehr alle heiligen Zeiten anschauen. Und dann streitet er immer mit der Mama und geht gleich wieder. Wollt nur seinen grauen Mantel holen, haha. Die glauben, mit zehn kann man noch nicht bis drei zählen. Ich merk doch, daß er nie mehr daheim schlaft. Dabei is doch eh genug Platz in der Wohnung. Wenn ich groß bin und Kinder hab’, werd’ ich sicher net woanders schlafen. Und die Mutti weint auch immer am Abend. Wenn er’s nächste Mal kommt, spiel ich ihm mei’ neues Stückl nicht vor.
Mit diesem Vorsatz betrat Hansi die Schule. Obwohl er sich gerade noch eingebildet hatte, daß es eben erst geläutet hat, war die Klassentür schon zu. Mist, fluchte er in sich hinein, schon wieder zu spät. Vorsichtig öffnete er die Tür.
Die Lehrerin war gut aufgelegt und nickte ihm nur kurz zu. Leise schlich Hansi zu seinem Platz und verstaute seine Schultasche unter dem Pult. Deutsch war sein Lieblingsfach, wenn es sowas überhaupt gab. Schule gehörte für ihn eindeutig zu den Dingen, die verboten werden sollten. Und Lehrer gleich mit. Außer vielleicht der Deutsch-Profaxin. Die lobte immer seine Aufsätze, obwohl sie natürlich auch eine blöde Kuh war. Was sie prompt auch jetzt wieder bewies: „Hör auf zum Rascheln, Hansi, wenn du schon unpünktlich bist, stör wenigstens die anderen nicht.“
Bei was denn schon, dachte Hansi aufsässig. Beim Beruferaten? Im Hereinschleichen hatte er gehört, wie der Walter, dieser Oberstreber, lang und breit daherstotterte, daß er einmal Schaffner werden wolle. Na, toll. Riesenkarriere.
Was Karriere war, wußte Hansi. Monatelange hatte die Mutti das dem Papa erklärt, wie er in der Firma Werkstattleiter hätte werden können, und der Papa nicht so recht gewußt hat, ob er das kann. Karriere war seither was Knallrotes in Hansis Phantasie. Wie der Pullover, den ihm die Mutti voriges Jahr gestrickt hatte, und den alle immer so bewunderten. Er konnte es zwar überhaupt nicht leiden, wenn die Tanten und die Freundinnen von der Mutti an ihm herumzupften und er sich wie ein dressierter Tanzbär im Kreis drehen mußte, aber gleichzeitig drehte sich dann auch immer alles nur um ihn. Genauso wie beim Ziehharmonikaspielen …
Hansis Gedanken entfernten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Klassenzimmer und landeten bei dem neuen Schlager, den er gestern im Radio gehört hatte, für den er den ganzen Nachmittag gebraucht hatte, um ihn nachspielen zu können, und den er dem Papa seit heute früh auf keinen Fall mehr vorspielen wollte. Noch dazu, wo der ihm akkurat eine Ziehharmonika hatte schenken müssen, obwohl er sich doch so dringend ein Klavier gewünscht hatte. Oder eine Gitarre.
Die Ungerechtigkeit addierte sich zu den neuerdings aufgetauchten Fehlern des Vaters in einem Tempo, das Hansis Mathelehrer zu einem Tanz vor der Tafel angestachelt hätte. Doch gleich darauf war auch der Papa wieder vergessen. Überblendet von einem Bild, das schon seit einiger Zeit einen Stammplatz in Hansis Vorstellungswelt einnahm: Er auf einer Bühne, einer echten Bühne, nicht so einer wie beim Kirtag in Bad Tatzmannsdorf, wo ihn die Mutti immer zu den Kurtanzereien mit diesen Pimperl-Combos mitschleppte. Und unter ihm eine beachtliche Menschenmenge, die mit jedem Lied, das er dort oben sang und zu dem er sich selbst mit der Gitarre begleitete, größer und größer wurde. Und dann – der donnernde Applaus, die begeisterten Pfiffe …
„… Hansi, ich hab dich was gefragt“, störte ihn der geradezu schrille Sopran der Lehrerin auf dem Höhepunkt seines Triumphes. Immer noch völlig entrückt, starrte er die nun doch etwas enervierte Deutschprofessorin an. „Na, was willst du einmal werden, wenn’s nicht zuviel verlangt ist?“ spuckte sie ihm vom Rande ihrer Geduld entgegen.
„Popstar“, antwortete Hansi wie aus der Pistole geschossen. Und als würde das Bild in seinem Kopf erst jetzt einen Sinn bekommen, wiederholte er mit der ganzen Inbrunst eines Zehnjährigen: „Ich will Popstar werden.“
2. KAPITEL
WIR ZWEI: HANS HOELZEL & HANSI LANG
„Tut mir leid, Wickerl, aber no amal bring’ i des net.“ Den letzten Teil des Satzes konnte man Hans bloß noch von den Lippen ablesen. Er räusperte sich. „Können wir die Nummer nicht in den zweiten Teil der Show legen? Ich bring’ ja nachher fast keinen Ton mehr raus. Wie hat der das gemacht, der McCartney? So hoch bin i net amal vorm Stimmbruch rauf’kommen.“
„War eh super, Oida“, beruhigte ihn Hansi Lang, selbst leicht krächzend. „Seit wir das Lied singen, weiß ich, warum die Beatles den Song ‚A hard day’s night‘ genannt haben, weil nachher waren s’ genauso fertig wie wir.“
„Wollt’s Musiker sein oder net?“ warf Wickerl ein. „I hab’ euch immer g’sagt, daß das ein harter Job is, und daß man …“
„… proben muß bis zum Umfallen“, antwortete ihm ein ganzer Chor. Wickerl Adam, der Kopf der Hallucination Company und jüngst in einer Zeitung sogar zum Wiener Szenepapst befördert, war bekannt für seine Schindermethoden, wie die Truppe es bezeichnete. Unter acht Stunden Proben am Tag hatte sich bei ihm keiner eine warme Mahlzeit verdient.
„Der hat leicht reden“, ereiferte sich Hansi Lang in seinem Selbstverständnis als einer der Frontmen der Company, während er mit Hans den Proberaum im Praterstadion verließ. Seit dem Aufsehen, das die Auftritte der Hallucination Company mittlerweile in der ganzen Stadt erregten, hatte man auch im Rathaus eine progressive Ader entdeckt und diesen durchgeknallten Frank-Zappa-Freaks ein Kammerl im Praterstadion für die Proben ihres Rocktheaters zur Verfügung gestellt.
„Der Wickerl hat die Show auf die Fiaß g’stellt, er hat schon recht, wenn er uns anständig hernimmt“, lenkte Hans ein.
„Na, eh klar, is scho leiwand, so a gepflegter Achtstundentag“, ätzte Lang mit der ganzen Ironie, die ihm österreichische Beamtenmentalität stets entlockte. „Manchmal denk’ ich mir, du hättest bei der Pensionsversicherung bleiben sollen. Für was bist’n Musiker worden. Oder glaubst, daß du pragmatisiert wirst bei der Company?“
„Was regst’ dich denn heut’ so auf?“ fragte Hans, der längst überrissen hatte, daß es nicht Wickerls sonst unbestrittene Fähigkeiten waren, die Hansi so auf die Palme brachten. „Is dir a Oide deppert kommen, oder was?“
„Red’ ma über alles, nur net über die Weiber.“
Damit war vorerst alles gesagt. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, erreichten die beiden den letzten der Gänge, die sie, vorbei an den Umkleidegarderoben der Sportler, zu dem Ausgang führten, durch den die Athleten immer aufs Spielfeld liefen.
„Schau dir das an“, sagte Hans und blieb irgendwie ergriffen vor der riesigen Rasenfläche stehen, „in sowas möcht’ ich auch einmal spielen, verstehst? Vor 100.000 Leut’. Und alle schreien: Zugabe!“ Er brüllte das Wort quer durchs Stadion. Das Echo war nicht so imposant, wie er es sich vorgestellt hatte.
„Und genauso wird’s sein, Oida“, ließ Lang sich plötzlich mitreißen, „dort werden wir stehen, wir zwei, und die Spots, mit denen s’ uns dann anstrahlen, sind noch gar nicht erfunden. Komm, gemma zu dir.“
Dem Haus in der Ziegelofengasse in Wien-Margareten, in dem Hans wohnte, sah