Rebecca Michéle

Der Weg der verlorenen Träume


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die kranke Anna, und das Nesthäkchen war Fritz, der trotz seiner fünf Jahre ausgelassen auf der Straße herumhüpfte.

      »Vater …« Hedwig trat näher. »Stimmt es, was die Leute sagen? Der Krieg ist wirklich vorbei?«

      Wenn es jemand genau wissen musste, dann Hermann Mahnstein, er war schließlich kaiserlicher Beamter. Er nickte, allerdings sah er äußerst grimmig und alles andere als erfreut aus.

      »Der Kaiser ist nach Holland geflohen.« Hermann Mahnstein versuchte nicht, seinen Zorn zu verbergen, eine Ader schwoll auf seiner Stirn, und seine Augen verengten sich. »Er hat Deutschland und sein Volk im Stich gelassen und ist feige abgehauen.«

      »Beruhige dich, Hermann.« Martha legte eine Hand auf den Arm ihres Bruders. »Der Krieg war seit Monaten verloren, der Kaiser musste sicher auf Druck des Parlaments das Land verlassen, sonst wäre es nie zu einem Ende gekommen.«

      Hermann schüttelte ihre Hand ab, als wäre sie ein lästiges Insekt.

      »Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst«, herrschte er seine Schwester an. »Nur gut, dass keine Weiber in den Krieg gezogen sind, sonst hätten wir schon nach ein paar Wochen kapitulieren müssen.«

      Hermann Mahnstein war der Überzeugung, Politik könne von Frauen nicht verstanden werden, da deren Gehirne für solch komplexe Vorgänge nicht geschaffen waren. Frauen gehörten früh verheiratet, sollten viele Kinder gebären und sich um den Haushalt kümmern. Einzig Aktivitäten in der Kirchengemeinde fanden Mahnsteins Wohlwollen, denn die Familie war gläubig und besuchte regelmäßig den Gottesdienst.

      Martha trat einen Schritt zurück und schenkte den Kindern frischen Kakao in die Tassen. Sie wusste, wann es besser war zu schweigen, auch Hedwig vertiefte das Thema nicht länger. Der Vater war durch und durch kaisertreu und hatte es nie überwunden, dass er aufgrund eines angeborenen leichten Herzfehlers für das Militär und den aktiven Dienst an der Front untauglich war. Dieser Fehler erlaubte ihm zwar, ein normales Leben zu führen, nur in den Kampf hatte er nicht ziehen dürfen. Wenigstens konnte er als Polizist für Recht und Ordnung sorgen.

      »Komm, lass uns tanzen!« Karl zog sie an der Hand aus dem Haus. »Soll Vater ruhig ein Gesicht machen, als hätte er Essig getrunken – wir lassen uns das Feiern nicht verbieten.«

      Obwohl auf Hedwigs Schultern die Erziehung der Geschwister und der Haushalt ruhten, war sie doch nur ein Mädchen, das sich von der allgemeinen Heiterkeit und Freude anstecken ließ. Bis vor eineinhalb Jahren hatte sie die Volksschule besucht, seit Herbst 1917 ging sie bei einer Schneiderin in die Lehre. Gegen diese Ausbildung hatte ihr Vater nichts eingewendet, denn nähen zu können, war eine Aufgabe, die Frauen anstand. Solange Hedwig ihre häuslichen Pflichten nicht vernachlässigte, akzeptierte er, dass seine älteste Tochter in die Lehre ging, außerdem brachte ihr Lohn ein paar Mark zusätzlich in die Haushaltskasse. Es verstand sich von selbst, dass Hedwig ihrem Vater jeden Pfennig aushändigte und nicht für sich selbst behielt. Hedwig arbeitete gern bei Erna Ballnus, deren einziges Lehrmädchen sie war. Fräulein Ballnus war auch so freundlich gewesen, Hedwig ein paar Tage frei zu geben, damit sie ihre Schwester Anna pflegen konnte, denn die Schneiderin wusste, dass die Verantwortung für die Familie auf Hedwigs Schultern lastete.

      Auf dem Marktplatz herrschte dichtes Gedränge, am nördlichen Rand wurde zu den Klängen, die aus einem Gasthaus auf die Straße drangen, ausgelassen getanzt. Hedwig überließ sich Karls Führung, wirbelte mit ihm im Kreis, ihre Füße bewegten sich im Rhythmus einer Trommel. Plötzlich fand sie sich in den Armen von Detlef, einem Nachbarsjungen, wieder, dann tanzte sie mit dem gutmütigen Bäcker mit den immer geröteten Wangen. Hunderte von Lampen tauchten den Marktplatz in helles Licht. Die Wirtin des Gasthauses, deren Mann im Krieg geblieben war, stand auf den Stufen und rief: »Freibier für alle, für die Frauen und Kinder Limonade!«

      Von ihrem Bruder war Hedwig getrennt worden und das Tanzen hatte sie durstig gemacht. Sie drängte sich durch die Menschen in die Schankstube. Ihr Vater würde sie rügen, sollte er erfahren, dass sie allein ein Wirtshaus betrat, heute waren die Regeln jedoch außer Kraft gesetzt.

      Vor dem Tresen drängten sich die Männer, denn niemand wollte sich das Freibier entgehen lassen. Auf dem Klavier wurde ein beschwingter Walzer von Johann Strauß geklimpert. Hedwig wurde hin und her geschubst, ein zufälliger, kräftiger Stoß in den Rücken ließ sie zuerst taumeln, dann stolpern und sie purzelte dem Klavierspieler direkt auf den Schoß. Er unterbrach sein Spiel, umfasste mit beiden Händen ihre Hüften und zog sie an sich.

      »Hoppla, was fällt mir denn hier Hübsches in die Arme?«

      Hedwig sah in zwei dunkelbraune, lachende Augen.

      »Lassen Sie mich sofort los!« Mit hochrotem Kopf befreite Hedwig sich aus der Umarmung. »Was fällt Ihnen ein?«

      Der Mann zwinkerte ihr zu.

      »Verzeihen Sie, Fräulein, aber ich dachte, Sie konnten meinem Charme nicht widerstehen und begaben sich freiwillig in meine Arme. Ich stehe Ihnen jederzeit gern wieder zur Verfügung.«

      Unwillig runzelte Hedwig die Stirn. Mit einem gemurmelten »unverschämter Kerl« drückte sie sich durch die Menschenmenge zur Tür. Der Durst war ihr vergangen. Kriegsende hin oder her – was erlaubte sich dieser Mann, sie derart vertraulich anzufassen, dazu seine anzüglichen Worte! Eigentlich hatte er ganz nett ausgesehen, dunkle Augen, pechschwarzes Haar und ein schmaler Oberlippenbart über vollen Lippen. Hedwig drehte sich um und versuchte, durch die Leute einen Blick auf den Klavierspieler zu erhaschen, der sein heiteres Spiel fortgesetzt hatte. Schnell und routiniert flogen seine Finger über die Tasten. Hedwig hatte ihn nie zuvor gesehen und er war noch sehr jung, kaum älter als sie selbst.

      »Da bist du ja.« Karl war plötzlich wieder an ihrer Seite. »Vater möchte nach Hause, er hat Hunger.«

      Hedwig folgte ihrem Bruder. Sie dachte daran, dass die Kohlrüben noch roh in der Küche lagen. Die Familie würde sich heute mit Butterbroten begnügen müssen. Trotz der besonderen Umstände des Abends stand Hedwig eine Strafpredigt ihres Vaters bevor, der sie aber gelassen entgegensah. Längst hatte sie sich angewöhnt, dessen Vorwürfe an sich abprallen zu lassen.

      Zwei Wochen später war es amtlich: Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt und Deutschland war nicht länger eine Monarchie, sondern eine Republik. Noch waren von dieser gravierenden Veränderung in Sensburg keine Auswirkungen zu bemerken, und für Hedwig war es ohnehin von größerer Bedeutung, dass Anna ihre Erkältung überwunden hatte und auf dem Weg der Besserung war.

      Nahezu über Nacht hatte der Winter in Masuren Einzug gehalten. Bereits am Nachmittag mussten die Lampen angezündet und das Feuer im Kamin geschürt werden. Schneeweiß waren die Birkenwälder, die Hügel und Täler, die Flüsse gefroren, und auf dem Schoß-See hatte sich eine Eisschicht gebildet. Noch war das Eis nicht dick genug, dass die Kinder ihre selbst gebastelten Schlittschuhe anschnallen und im schnellen Rausch über den See flitzen konnten. Auch Fritz und Anna mussten sich in Geduld üben, bei dem anhaltenden Frost würde es aber nicht mehr lange dauern, bis der See für die Kinder zum Tummelplatz werden würde. Auf der gegenüberliegenden Landzunge, die einer Insel gleich in den See ragte, gab es einen Hügel, auf dem die Kinder Schlitten fuhren. Allgemein wurde diese Erhebung Kilimandscharo genannt, wobei niemand wusste, wie der Hügel zu einer solch ausgefallenen Bezeichnung gekommen war, hatte er doch mit dem Berg in Afrika nichts gemein.

      Obwohl Hedwig die heißen, hellen Sommertage lieber mochte, hatte der Winter auch seinen Reiz. Masuren lag wie unter einer friedvollen Glocke, das Leben schritt langsamer voran, an den Abenden saß die Familie in der Küche zusammen, und man erzählte sich gegenseitig Märchen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Bald war der 1. Advent und die besinnliche Vorweihnachtszeit brach an. Das erste Christfest nach dem schrecklichen Krieg. Hedwig wollte das Haus besonders hübsch schmücken und jede Menge Köstlichkeiten zubereiten. Für ihre Geschwister gab es nichts Schöneres, als an den Samstagnachmittagen Plätzchen auszustechen und Pfeffernüsse, Lebkuchen und Stollen zu backen. Im Haus Mahnstein gab es nur wenige und nützliche Geschenke. Aus Stoffresten, die Fräulein Ballnus ihr überlassen hatte, fertigte Hedwig Röcke,