Mann kam näher und runzelte nachdenklich die Stirn. »Kennen wir uns nicht?«
»Nicht, dass ich wüsste«, stieß Hedwig hervor, etwas zu schnell, denn sie hatte den Mann auf den ersten Blick wiedererkannt: Es war der Klavierspieler aus dem Wirtshaus, auf dessen Schoß sie gesessen und der sie umarmt hatte. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie hoffte, er würde die Röte auf die draußen herrschende Kälte zurückführen.
»Ich könnte wetten, wir sind uns schon mal begegnet. Ein so hübsches Gesicht vergesse ich niemals.« Er deutete eine Verbeugung an, und Hedwig erwiderte: »Fräulein Ballnus, die Schneiderin in der Stadt, schickt mich. Ich habe der Frau Baronin ein Kleid abzuliefern.«
Sie hielt ihm das Paket hin, er warf aber keinen Blick darauf. Seine haselnussbraunen Augen wanderten über Hedwig, und mit einem Lächeln fragte er: »Und Sie sind?«
»Fräulein Mahnstein, ich arbeite bei Fräulein Ballnus.«
»Sie haben bestimmt auch einen Vornamen, Fräulein Mahnstein?«
»Der Sie nicht zu interessieren hat.« Distanziert musterte sie ihn und fuhr fort: »Sie hatten selbst noch nicht die Freundlichkeit, sich vorzustellen.«
Er lächelte, legte formvollendet eine Hand in seinen Rücken und verbeugte sich, ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen.
»Albert von Dombrowski, der Sohn des Hauses. Na ja, sagen wir mal: Das schwarze Schaf der Familie, da ich aber der einzige Sohn bin und meine Eltern mich nicht umtauschen können, haben sie sich mit mir abgefunden.«
Unwillkürlich musste Hedwig über eine solch entwaffnende Ehrlichkeit lachen. Aus der Nähe und bei Tageslicht betrachtet erkannte sie, dass ihr erster Eindruck sie nicht getäuscht hatte. Auch wenn seine Worte altklug klangen, war er erst sechzehn, maximal siebzehn Jahre alt.
»Was ist nun mit dem Päckchen?«, sagte sie und wich seinem Blick aus. »Kann ich bitte die gnädige Frau sprechen?«
Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Es tut mir leid, meine Eltern sind nach Allenstein gefahren, vor morgen Nachmittag erwarte ich sie nicht zurück. Sie können die Lieferung aber mir überlassen, ich versichere Ihnen, sie meiner Mutter alsbald auszuhändigen.«
»Ich bekomme sechs Mark, die Rechnung habe ich mitgebracht.«
»Sechs Mark? So viel Geld habe ich nicht.« Er griff in seine Hosentaschen und drehte sie nach außen. »Bitte, Sie können sich selbst davon überzeugen, Fräulein Mahnstein.«
»Ich habe Anweisung, das Kleid nur gegen Barzahlung abzuliefern«, beharrte Hedwig, sein Verhalten erschien ihr übertrieben theatralisch, und sie empfand die Situation alles andere als lustig. »Dann war der weite Weg umsonst«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu und wandte sich zur Tür.
Mit einem Schritt war er an ihrer Seite und legte eine Hand auf ihren Arm.
»Warten Sie, ich denke, meine Mutter möchte das, was immer sie sich hat anfertigen lassen, gern vorliegen haben, wenn sie nach Hause kommt. In den nächsten Tagen wird sie in die Stadt kommen und die ausstehende Summe begleichen.«
So, wie zweimal zuvor, dachte Hedwig. Eben noch hatte sie daran gedacht, das Kleid irgendwo abzulegen und ohne das Geld zurückzugehen, da jetzt aber jemand im Haus war, wollte sie das Versprechen gegenüber ihrer Lehrherrin einhalten.
»Es tut mir leid, Fräulein Ballnus besteht auf Barzahlung«, sagte sie entschlossen. »Richten Sie der gnädigen Frau bitte aus, sie kann das Kleid jederzeit in der Schneiderwerkstatt abholen.«
Er sah ein, dass es ihm nicht gelingen würde, Hedwig zu überzeugen, und fragte: »Wie kommen Sie in die Stadt zurück, Fräulein ohne Vornamen?«
Sie hob eine Augenbraue. »Zu Fuß, so, wie ich auch hergekommen bin.«
»Ich könnte Sie fahren.« Er sah ihr Erstaunen, grinste und nahm ihre Hand, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Komm mit!«
Hedwig ließ sich von ihm aus dem Zimmer ziehen, rief dann aber: »Das Kleid!«
»Leg es hier hin, ich verspreche, meine Mutter wird die Rechnung unverzüglich begleichen.« Unwillkürlich war Albert von Dombrowski zum vertraulichen Du übergegangen, was Hedwig in Anbetracht, dass sie fast gleichaltrig waren, nicht störte.
Sie folgte ihm durch die Halle und den Haupteingang ins Freie, überquerte den Hof und betrat einen Stall, der im Gegensatz zu den anderen Gebäuden einen noch stabilen Eindruck machte. Als Hedwig eintrat, schlug ihr warme, nach Pferdemist riechende Luft entgegen. In einer der sechs Boxen stand ein Pony, das bei dem Besuch den Kopf hob und freudig wieherte. Albert tätschelte den Hals des Pferdes, wandte sich zu Hedwig um und sagte: »Das ist Troja, sie wird uns in die Stadt bringen.«
»Troja? Das ist ein seltsamer Name für ein Pferd.«
»Ich war dabei, als sie geboren wurde, und da ich gerade ein Buch über die Schöne Helena gelesen hatte, erschien mir dieser Name passend.«
Hinter dem Stall stand ein Schlitten mit zwei Sitzplätzen. Mit geübten Handgriffen spannte Albert das Pony ein, aus dessen Nüstern stieg der Atem in kleinen Dampfwolken hervor. Er half Hedwig, einzusteigen, wickelte sie sorgfältig in ein wärmendes Fell und legte zusätzlich eine Wolldecke über ihre Beine.
»Hast du es bequem und frierst du auch nicht?«, fragte er.
Hedwig nickte. Nie zuvor war sie in einem Pferdeschlitten gefahren. Manchmal sah man Schlitten in Sensburg dahingleiten, die Insassen in dicke, kostbare Pelze gekleidet, denn nur Vermögende konnten sich ein solches Gefährt leisten. Sie dachte an die Bemerkung von Fräulein Ballnus, die von Dombrowskis wären verarmt und das, was sie, Hedwig, von dem Haus gesehen hatte, bestätigte diesen Eindruck. Als hätte Albert ihre Gedanken erraten, sagte er, als er den Schlitten auf die Allee lenkte:
»Für Troja habe ich gekämpft, um sie behalten zu können. Weißt du, dass unsere Familie in Stettin ansässig war, bevor wir hierherzogen?« Hedwig nickte, und er fuhr fort: »Mein Vater hätte nie geglaubt, Kahlenwald und den Titel zu erben, war er doch nur ein Cousin zweiten Grades des einstigen Barons. Das Schicksal wollte es aber, dass die anderen Linien ausstarben, und Vater ist nun der Letzte. Allerdings haben wir nicht mehr als das Haus und die Nebengebäude. Der einst weitreichende Landbesitz wurde bereits vor Jahrzehnten veräußert. Deswegen arbeitet mein Vater als Fleischer, wozu im Haus ausreichend Platz vorhanden ist. Nicht gerade das, womit sich ein Baron üblicherweise beschäftigt. Die Zeiten, in denen sich der Adel von allein ernährt, sind jedoch vorüber und die Zukunft wird noch schwieriger werden. Bald werden alle Großgrundbesitzer um ihr finanzielles Überleben kämpfen müssen. Die Zeit der Jagden und rauschenden Feste wird dann vorbei sein.«
»Bist du etwa ein Kommunist?«
»Nein, nur Realist.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Hedwig. »Deine Familienverhältnisse gehen mich nichts an.«
Albert betrachtete sie mit einem Seitenblick, den Hedwig nicht deuten konnte. In ihm lagen sowohl Spott, Belustigung, aber auch eine gewisse Taxierung ihrer Person.
»Ich hoffe, dich in Zukunft häufiger zu sehen«, sagte er mit einer offenen Selbstverständlichkeit.
Unwillkürlich begann Hedwigs Herz schneller zu schlagen. Den kalten Fahrtwind spürte sie nicht mehr, ihr Gesicht war glühend heiß. Sie betrachtete seine Hände, die sicher und ruhig die Zügel führten. Albert trug dunkle Wollhandschuhe, zuvor hatte sie aber bemerkt, dass seine Hände schmal, seine Finger lang und dünn mit kurzen, gepflegten Nägeln waren. Finger, die, Schmetterlingsflügeln gleich, über Klaviertasten huschten.
»Du bist Musiker?«, fragte sie, um irgendetwas Neutrales zu sagen.
»Ich wäre es gern.« Er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Am liebsten würde ich von früh bis spät Musik machen und die Menschen unterhalten. Ich fühle mich für die Bühne geboren. Mein Vater ist alles andere als begeistert. Er meint, wenn ich schon nicht die Fleischerei übernehmen will, was ich auf gar keinen Fall machen werde, soll etwas anderes Anständiges aus