Rebecca Michéle

Der Weg der verlorenen Träume


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haben sie dich aus der Schule geworfen?«

      Ein belustigendes Zwinkern zuckte in seinen Augenwinkeln. »Hätte der Krieg noch länger gedauert, wäre ich nach Weihnachten ins Feld geschickt worden. Ich wollte aber nicht kämpfen, außerdem war es jedem bewusst, dass der Krieg verloren war, nur wollte es niemand aussprechen. So habe ich mit meinem Vorgesetzten einen Streit provoziert, in Folge dessen ich ihn ohrfeigte, was zu meiner sofortigen Entlassung führte.«

      Hedwig zog erschrocken die Luft ein und stieß hervor: »Dafür hätten sie dich erschießen oder zumindest in den Kerker sperren können!«

      »Das Risiko bin ich eingegangen, es führte ja zu dem Ziel, das ich hatte.« Albert von Dombrowski sprach mit einem spöttischen Unterton, als wäre das alles ein riesengroßer Spaß. Hedwig vermutete, er war ein Mensch, der das Leben nicht sehr ernst nahm.

      »Hältst du mich jetzt für einen Feigling, weil ich mein Vaterland nicht verteidigen und an dem sinnlosen Gemetzel nicht teilhaben wollte?« Albert sah sie mit einem Blick an, als wäre ihm Hedwigs Meinung wichtig.

      »Niemand ist ein Feigling, der es ablehnt, Menschen zu töten«, antwortete Hedwig im Brustton der Überzeugung und fragte: »Was wirst du jetzt machen?«

      Ein erneutes Schulterzucken. »Auf keinen Fall werde ich Tiere ausnehmen und in ihre Einzelteile zerlegen, sondern ich strebe ein Musikstudium an. Im Moment fehlt mir noch das nötige Kleingeld, es wird sich aber ein Weg finden.«

      Unwillkürlich legte Hedwig ihre Hand auf seinen Arm. »Da bin ich ganz sicher! Du spielst wunderbar, und ich wünsche dir, dass du ein erfolgreicher Musiker werden wirst.« Sie hatte die Worte ganz ernst gesagt und meinte sie ehrlich, denn Hedwig spürte, dass in dem jungen Mann mehr Potenzial steckte, als sein Leben als Metzger zu verbringen.

      Hedwig bat Albert, am Stadtrand anzuhalten. »Den Rest gehe ich zu Fuß.«

      Er nickte und erwiderte: »Ich verstehe, du willst nicht, dass die Leute sehen, wie du wie eine große Dame in einem Schlitten vorfährst.« Hilfsbereit reichte er ihr seine Hand beim Aussteigen, hielt diese dann länger als notwendig fest. »Verrätst du mir nun deinen Vornamen?«

      »Hedwig, meine Familie und Freunde nennen mich Hedi.«

      »Dann werde ich dich auch Hedi nennen, denn ich glaube, wir sind jetzt Freunde. Wir sehen uns bald wieder, Hedi, ich weiß ja jetzt, dass ich dich bei der Schneiderin finden kann.«

      Rasch entzog sie ihm ihre Hand und lief davon, musste sich aber beherrschen, sich nicht noch einmal umzudrehen und zu Albert von Dombrowski zurückzublicken.

      Wie erwartet reagierte Erna Ballnus ungehalten, als sie erfuhr, dass ihr Lehrmädchen ohne das Geld zurückgekommen war. Mit hängenden Schultern stand Hedwig vor ihr und murmelte: »Die Frau Baronin ist verreist, und der Sohn hatte nicht so viel Geld im Haus.«

      »Die Dombrowskis haben nie Geld im Haus!«, wetterte Fräulein Ballnus. »Nun kann ich wieder zusehen, wie ich zu meinem Geld komme, wenn ich es überhaupt erhalte. Ich hätte größte Lust, dir den Betrag von deinem Lohn abzuziehen. Es war definitiv das letzte Mal, dass ich für die Dombrowski etwas genäht habe, ich muss schließlich auch sehen, wie ich über die Runden komme.«

      »Ich kann am Wochenende noch mal nach Kahlenwald gehen und das Geld holen«, bot Hedwig an, nicht ohne Hintergedanken. Sie hätte dann einen Grund, Albert wiederzusehen. »Vielleicht kommt die Frau Baronin aber wirklich morgen in die Stadt und begleicht ihre Schulden.«

      »Ja, sicher, und in diesem Jahr fallen Weihnachten und Ostern zusammen auf einen Tag«, brummte Erna Ballnus verstimmt.

      Hedwig schämte sich, die Anweisung ihrer Lehrherrin nicht in aller Konsequenz umgesetzt zu haben. Sie hätte das Kleid niemals in Kahlenwald lassen dürfen, hatte sie doch mit eigenen Augen gesehen und von Albert selbst gehört, wie es um die Finanzen der von Dombrowskis bestellt war. Wie ein dummes Mädchen hatte sie sich von seinen freundlichen Worten und seinen warmen Blicken einlullen lassen. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.

      »Säume die Manschetten an der blauen Bluse«, wies Erna Ballnus sie nun an, »und keine Sorge, ich ziehe dir den Betrag nicht vom Lohn ab. Das nächste Mal hältst du dich daran, was ich dir auftrage, Hedwig.«

      Sie versprach, es zu tun.

      Gegen sechs Uhr kam Hedwig nach Hause, bereitete das Abendbrot zu und deckte den Tisch. Als alle beisammensaßen, sagte die zwölfjährige Paula unvermittelt: »Hedi ist heute mit einem Pferdeschlitten spazieren gefahren und war in dicke Pelze eingepackt.«

      Der Löffel entglitt Hedwigs Fingern und klirrte auf den Tellerrand. Die Augen des Vaters verengten sich, und er fragte: »Was hat das zu bedeuten, Hedwig? Warst du etwa nicht bei der Arbeit?«

      »Fräulein Ballnus schickte mich, ein Kleid auszuliefern«, antwortete Hedwig und hielt dem bohrenden Blick ihres Vaters stand. Sie hatte nichts Unrechtes getan oder gar etwas zu verbergen. »Der Sohn des Hauses war so freundlich, mich im Schlitten mitzunehmen, da er ohnehin in die Stadt musste.« Das war zwar geschwindelt, klang aber logisch.

      »Wer in aller Welt besitzt in der Gegend einen Pferdeschlitten?«, fragte Auguste Mahnstein. »Wo bist du gewesen, Tochter?«

      »Auf Gut Kahlenwald.«

      »Bei den von Dombrowskis?«

      »Du kennst sie, Vater?«

      Er nickte und antwortete grimmig: »Sie sind zugezogen, ich bin dem Baron ein paar Mal begegnet. Ein grobschlächtiger Mann, na ja, das passt zu seiner Tätigkeit.«

      »Hedi saß aber mit einem jungen Mann im Schlitten«, rief Paula dazwischen

      »Sei doch still«, zischte Hedwig ihr zu, die Schwester aber fuhr triumphierend fort: »Und der sah sehr gut aus.«

      Langsam erhob sich Hermann Mahnstein, stützte die Handflächen auf die Tischplatte, runzelte die buschigen Augenbrauen und sagte missbilligend: »Ich verbiete dir, dich mit Männern herumzutreiben! Du bist noch ein halbes Kind und wirst die Familie nicht in Verruf bringen!«

      »Albert von Dombrowski war nur so freundlich, mich bei der Kälte den weiten Weg nicht zu Fuß zurückgehen zu lassen«, erwiderte Hedwig mit einem trotzigen Unterton. »Es war helllichter Tag, ich habe einen Auftrag meiner Lehrherrin ausgeführt, und Albert ist kein Mann, sondern ein Junge in meinem Alter.«

      »Ach, du nennst ihn schon Albert?« Hermann Mahnstein kam um den Tisch herum und baute sich vor Hedwig auf. »Du wirst dich von diesen Leuten fernhalten, Tochter. Hast du das verstanden?«

      Hedwig nickte. Sie kannte ihren Vater gut genug, um an seinem Gebaren zu erkennen, wann es besser war, keine Widerworte zu geben. Da sagte ihre Mutter mit ihrer leisen, zarten Stimme: »Hermann, schimpf nicht mit ihr. Nach diesem Krieg können wir froh sein, wenn es noch junge Männer gibt, die alle Gliedmaßen besitzen und nicht blind, taub oder sonst was sind. Hedwig wird immerhin bald sechzehn, und ...«

      »Viel zu jung, um sich mit Männern zu verabreden«, schnitt Hermann seiner Frau das Wort ab. »Meinen Standpunkt habe ich wohl deutlich klargemacht. Wen Hedwig einmal zum Mann nimmt, bestimme immer noch ich, und jetzt möchte ich in Ruhe mein Abendbrot essen.«

      »Meine Güte, ich habe nicht vor, Albert von Dombrowski zu heiraten!«, rief Hedwig aufgebracht. »Macht doch bitte kein Drama aus einer gerade mal zwanzig Minuten dauernde Schlittenfahrt! Vater, ich weiß, was sich gehört, und werde euch keine Schande bereiten.«

      Der Blick, mit dem ihr Vater sie bedachte, sagte Hedwig, dass er sich dessen keineswegs sicher war.

      Zwei Tage später berichtete Erna Ballnus, die Baronin von Dombrowski habe sie am Abend des Vortages aufgesucht und die ausstehende Rechnung auf Heller und Pfennig beglichen.

      »Das hat mich überrascht, aber vielleicht war ich in meinem Urteil zu voreilig«, bemerkte die Schneiderin nachdenklich. »Die Frau Baronin drückte ihr Bedauern aus, nicht persönlich anwesend gewesen zu sein, um das Kleid in Empfang zu nehmen und die Rechnung sofort zu bezahlen.«

      »Das