Miguel. »Wir sind doch keine Barbaren! Lasst sie gehen. Wir müssen kein Exempel statuieren, nur, um die Geschichte der Piraten anschaulicher zu gestalten.«
»Halt den Mund, Miguel«, donnerte Captain Pablo.
»Für einen echten Piraten gehört es sich, die Meinung der gesamten Mannschaft anzuhören. Wir sollten abstimmen«, schlug Miguel vor.
»Okay«, rief Captain Pablo, »wer ist dafür, unsere Dublonen-Diebin über die Planken gehen zu sehen?«
Die Mehrheit der Passagiere hob die Hand, auch Frauen.
Ehe sie wusste wie ihr geschah, wurde Jana von José gepackt und hochgehalten. Rodney legte eine Planke quer über die Reling und beschwerte sie mit einem Fass. José stellte Jana darauf und ließ sie los.
Mit klopfendem Herzen stand Jana auf der Planke und blickte nach vorn zum Meer. Türkisblau leuchtete es ihr entgegen. Schweiß brach ihr aus und ihre Angst vor Haien übermannte sie. Was wäre, wenn sie ins kalte Nass sprang und ein Hai auf sie wartete ...?! »Was ist mit Haien! Wer garantiert mir, dass er mir nicht den Kopf abbeißt, sobald ich im Wasser bin?«
»Ach, Prinzessin, darüber macht Euch mal keine allzu großen Gedanken«, sagte José. »Hier gibt es nur Hammer-, Mako- und Bullenhaie. Die ersten beiden greifen Menschen so gut wie nie an und für den Bullenhai seid Ihr doch nur ein Häppchen. Nicht der Mühe wert, überhaupt zu Euch zu schwimmen!« Er lachte.
Andere fielen sofort mit ein. Auf einmal, als wäre ein Knoten geplatzt, fingen die Männer wieder an zu grölen und zu rufen. Sie trieben Jana mit Worten an und klatschten dabei laut in die Hände. Sie wollten endlich etwas geboten bekommen.
Doch die Angst saß Jana in den Knochen. Was, wenn sie nicht rechtzeitig gerettet wurde und wenn ein Hai kam und ihrem Leben ein Ende setzte? Sie spürte, wie Panik in ihr hochkroch und ihren Herzschlag extrem beschleunigte. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren, die Angst lähmte ihre Bewegungen.
Sie blickte sich nach den wenigen Fürsprechern um. Der gutaussehende Mann kaute nervös an seiner Unterlippe. Miguel blickte ihr gerade in die Augen und sie bemerkte erst jetzt, dass er vom Bootsmann Rodney und dem bulligen Schiffskoch Ed festgehalten wurde. Dieser Anblick brachte ihr Herz in Wallung und sie wollte sich gerade umdrehen und zurück aufs Schiff laufen, als sie zwei lange Enterhaken im Rücken und an den Beinen spürte.
»Los, geht endlich, wir wollen was für unser Geld sehen«, hörte sie aus den Reihen. Johlende Laute und Rufe mischten sich hinein. Die Enterhaken trieben sie immer weiter nach vorn auf die Spitze. Jana atmete schwer und schloss die Augen.
In diesem Augenblick hörte sie Schreie und Stimmengewirr. Sie blickte sich um. Miguel hatte sich losgerissen und sprang auf die Planke. Drei Männer hinter ihm her. Janas Herz raste.
»Los, schmeiß den Ketzer gleich mit rein«, rief jemand.
Jana wollte zurücklaufen, doch der harte Schlag einer Stange traf ihre Beine und sie stürzte mit einem Aufschrei ins Wasser. Laut schlug das kühle Nass über ihr zusammen. Automatisch wollte sie mit den Armen Schwimmbewegungen ausführen, doch ihre Hände waren ja gefesselt. Wild und in Panik riss sie die Augen auf und strampelte so stark sie konnte mit den Füßen. Das Salz brannte in ihren Augen, aber sie ignorierte es. Jana schaffte es, an die Wasseroberfläche zu kommen, aber nur, um sofort wieder unterzutauchen. Sie wollte schreien, doch der Verstand sagte ihr, dass sie dann am und im Wasser ersticken würde.
Ein Klatschen war zu hören. Dann noch eins. Ihre Panik reichte, um die erste Ladung Wasser zu schlucken. Sie kämpfte sich an die Oberfläche und zog mit weit aufgerissenen Augen Luft ein. Sofort sackte sie wieder ab. Jana wollte nicht ertrinken, hoffte auf irgendjemanden, der ihr zu Hilfe kam. Doch ihre Hoffnungen schwanden, als sie Wasser einatmete ...
In diesem Augenblick wurde sie an die Oberfläche gerissen und hochgehalten. Jana strampelte mit den Füßen, hustete wild, riss an den Fesseln. Die Fesseln wurden durchgeschnitten und sofort klammerte sie sich an ihren Retter. Sie blickte in Miguels Augen. Er hielt sie fest an sich gedrückt und passte auf, dass sie nicht untergingen.
Nach einer Weile, als Jana sich ein bisschen beruhigt hatte, fragte Miguel: »Geht’s wieder?«
Sie nickte, unfähig zu sprechen. Hustete erneut.
»Schwimm zur Rückseite des Schiffes«, keuchte Miguel.
Sofort kam Janas Panik wieder. »Und du?«
Ihre Frage wurde beantwortet, indem sie sah, wie Rodney mit dem Messer auf ihn losging. Augenblicklich löste sie sich von Miguel und schwamm zum Schiffsheck. Eine Strickleiter wurde vom Schiffskoch Ed und einem der Passagiere festgehalten. Jana kletterte mit zitternden Knien hinauf. Ihre Augen brannten vom Salzwasser. Ihr Hals schmerzte vom vielen Husten.
Ed nahm sie in Empfang und hob sie über die Reling.
»Danke«, flüsterte Jana und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken.
Die Leute um sie herum pfiffen und johlten. Ein Tuch wurde ihr gebracht. Jana fragte sich, was Miguel und Rodney so lange im Wasser machten. Wieso kamen sie nicht an Bord? Sie wollte zur Reling, doch José versperrte ihr den Weg. Automatisch wich sie einen Schritt zurück und stieß an einen Mann. Erschrocken zuckte sie zusammen. Starke Hände legten sich um ihre Schultern. Es war Miguel. Vor Erleichterung hätte sie beinahe geweint und sich am liebsten an seine Brust geworfen. Stattdessen spürte sie nur, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie.
»Nur ein ... kleiner Kampf im Wasser – nichts Wildes«, gab Miguel zurück und tropfte auf die Schiffsplanken.
»Piraten hin oder her, ich möchte nicht, dass es Handgreiflichkeiten gibt«, sagte Captain Pablo. »Wir haben ein schönes Beispiel gesehen, wie es auf einem Piratenschiff zugegangen sein kann. Jetzt werden wir die Arbeit niederlegen, uns zusammensetzen, ein bisschen Grog trinken, Tintenfisch essen und über die Piraten und deren Vergangenheit plaudern. Miguel, geh runter zu Ed und lass dich verbinden. Rodney, mit dir möchte ich mich noch unterhalten. Auf geht’s.«
Rodney schlurfte nass wie ein Hund an Jana vorbei und hielt sich den Arm. Captain Pablo wirkte sehr verärgert und zerrte ihn mit sich fort zum Bug.
Jana blickte sich um. Miguel ging gerade unter Deck. Sie lief hinter ihm her und folgte ihm über die schrägen, ungleichmäßigen Stufen. Unten angekommen, erwartete er sie. Sein Hemd war oberhalb der Brust blutdurchtränkt. Jana erschrak. »Oh mein Gott ...«
»Alles halb so wild.«
»Aber warum? Es soll doch angeblich nur ein Spiel sein.«
»Denk an deine Strafe, das war schon kein Spiel mehr.«
»Ich verstehe das nicht. Ist das immer so bei euch?«
»Kann ich nicht sagen, ich bin das erste Mal dabei.«
Jana schüttelte den Kopf. »Das ist unglaublich! So etwas habe auf gar keinen Fall erwartet!« Sie blickte ihn an. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte mich wahrscheinlich ein Hai verspeist.«
Miguel lächelte. »Na, so schnell geht das nicht.«
Jana blickte ihn einige Zeit an, dann sagte sie. »Danke.«
»Wofür? Dass ich meinen Job mache?«
»Das war mehr als das.«
»Ich muss jetzt zum Koch. Er soll mir ein Pflaster mit kleinen blauen Elefanten aufkleben.«
Jana lachte. »Wenn du willst, verbinde ich dir die Wunde.«
Miguel überlege kurz und nickte dann. »Na schön.«
Sie ging in ihre Kajüte und holte ihre Arzttasche.
»Das sieht ja fachmännisch aus«, sagte er mit einem Blick auf die Tasche.
Sie lächelte. »Vielleicht liegt es daran, dass ich Ärztin bin.«
Einen Augenblick guckte er sie an, setzte sich dann auf ihr kleines Bett. »Ich habe selten so schäbige Kajüten gesehen«,