belassen. Der spektakuläre Bau stieß zunächst auf gemischte Reaktionen: Er war um vieles teurer als vorgesehen, wirkte klobiger als auf den vorab präsentierten Modellen und hielt zu allem Überdruss den Regen auch nur teilweise ab. Freilich: Niemand behauptet, es wäre schlechter als das, was hier noch vor ein paar Jahren stand, und die Sache mit den undichten Stellen hat man mittlerweile in den Griff bekommen.
Mich zieht es ohnehin nicht wegen des Einkaufszentrums in die Gegend, sondern wegen dessen Umgebung: Das Herz des Viertels wurde 1971 zwar weggerissen, aber viele der Arterien, die zu ihm führten, pulsieren nach wie vor. Auch manche Gaststätten aus den goldenen Zeiten der Hallen gibt es noch, etwa in der Rue Rambuteau, die nördlich an der Baustelle vorbeiführt, das typische Hallen-Bistro Au Père Fouettard mit seiner stilvoll patinierten Inneneinrichtung und dem längst nicht mehr genützten Regal, in dem Stammgäste früher ihre Stoffservietten aufbewahrten, oder La Fresque, ein weiterer dieser praktischen Klassiker, die es einem ersparen, sich bei Shopping-Touren von Fast Food oder Systemgastronomie ernähren zu müssen, wie man das in ähnlichen Einkaufslandschaften andernorts eben hinnimmt. Hier bin ich gestern bei meinen Recherchen zu Mittag eingekehrt und habe den Wirt gleich um das Rezept des Kabeljaurückens mit Chorizo-Sauce gefragt, den es als Mittagsteller gab – typische Pariser Bistro-Küche: einfache Zutaten, ein schnelles Rezept und doch ein hervorragendes Gericht. Angesichts des Trubels hat er mich gebeten, am nächsten Vormittag wiederzukommen, hier bin ich nun. Und habe Glück. Der freundliche Mann, der gerade mit dem Besen in der Hand im Eingang lehnt und eine Verschnaufpause macht, ist Küchenchef Jean-Louis Winnebroot persönlich, der mir das Rezept gern weitergibt. Allerdings sind die Zutatenlisten, wenn man mit Restaurant-Köchen über ihre Rezepte spricht, meist gewöhnungsbedürftig: Man nehme fünf Liter Schlagobers … Hier gilt: Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl und Ihre Vorlieben, dann wird das schon. Wichtig ist ihm vor allem nach Gefühl zu kochen und die Qualität der Zutaten, auf die er beim Erklären immer wieder hinweist. Also:
JEAN-LOUIS WINNEBROOTS KABELJAU IN CHORIZO-SAUCE
Man braucht für vier Personen ein etwa 15 Zentimeter langes Stück von einer weichen Chorizo-Wurst mit eher geringem Durchmesser (gut zwei Zentimeter – in Frankreich sehr gängig, bei uns etwas schwerer zu bekommen). Diese häuten und in feine Scheiben schneiden. In etwa einen halben Liter Obers geben und dieses auf die Hälfte reduzierend einkochen – ein einfacher Trick, der die Schärfe der Wurst mildert und eine würzige, dichte Sauce entstehen lässt.
Ein schönes Stück vom Kabeljaurücken mit Olivenöl beträufeln, salzen und mit etwas Fischfond und Weißwein zehn Minuten im Rohr garen. Keinesfalls zu lange im Rohr lassen – zerkocht wird der Fisch bröckelig und trocken, es wäre schade drum! Den Fisch mit der Chorizo-Sauce auf Tellern anrichten.
Dazu gab es Ratatouille und Karottenpüree, auch das geht nach Gefühl: Für die Ratatouille sechs der sieben typischen Gemüsesorten (Melanzani, Zucchini, Zwiebel, drei verschiedenfarbige Paprika) in Würfel schneiden und einzeln braten, bis sie weich sind. Zum Schluss mischen und geschälte, entkernte Tomaten dazugeben, aufkochen, mit Salz und Pfeffer abschmecken.
Für das Karottenpüree braucht es Karotten, Butter, Milch, Salz und Pfeffer. Wie viel in etwa? Jean-Louis erklärt kryptisch: Keinesfalls mit der Butter sparen, die Milchmenge richtet sich danach, ob man es mit zarten Frühlings- oder zähen Winterkarotten zu tun hat. Ganz wichtig: Ausreichend pfeffern, sonst schmeckt es wie Babybrei. Im Gegensatz zu Kartoffelpüree, das mit dem Pürierstab gemixt zu Kleister wird, kann man hier ohne Probleme den Stabmixer verwenden.
Das war es schon. Der kleine Brotkorb, der in Frankreich wie auch Leitungswasser, Salz und Pfeffer von Gesetzes wegen gratis auf dem Tisch steht und auf Verlangen jederzeit nachgefüllt werden muss, erspart französischen Köchen die bei uns stets vorhandene „Sättigungsbeilage“.
Gut gelaunt spaziere ich in Richtung Saint-Eustache weiter, dieser riesigen, von außen immer etwas unfertig aussehenden, gotisch anmutenden Renaissance-Kirche am Rande des alten Marktplatzes. So schwer sie von außen zu fassen ist, so großartig ist diese Kirche von innen: Das Raumgefühl ist einzigartig, die behäbige Riesenkirche wirkt plötzlich wunderbar leicht, ihr helles Gewölbe – das höher ist als das von Notre-Dame – zieht einen förmlich nach oben.
Nach der Kirche geht es in der Rue Montorgueil weiter. „Hochmutsberg“ würde die deutsche Übersetzung in etwa lauten, ein schön selbstironischer Name: Der Hügel, zu dem die Straße führt, besteht aus nichts anderem als aus dem Müll, der sich einst vor der Stadtmauer türmte. Diese hatte König Philippe Auguste am Ende des zwölften Jahrhunderts zur Verteidigung der Hauptstadt anlegen lassen – Gefahr drohte von den Engländern, die auch über die nahe Normandie herrschten. Von Philippe Augustes Mauer sind heute noch einige Spuren im Pariser Stadtbild erhalten, und eben auch der mittelalterliche Müllberg, in dessen Richtung ich jetzt aufbreche. Die Rue Montorgueil zählt seit jeher zu den gastronomischen Lebensadern der Metropole: Über diese Straße, die weiter stadtauswärts Rue Poissonnière heißt, also Fischhändlerinnenstraße, wurden, als man die Engländer endlich aus dem Land geworfen hatte, Fisch und Meeresfrüchte von der etwa zweihundert Kilometer entfernten Küste der Normandie in die stets hungrige Hauptstadt transportiert.
Zwischen den zahlreichen Fischhändlern siedelten sich weitere „métiers de bouche“ an, „Mundberufe“, wie man so schön auf Französisch sagt: Fleischer, Obst- und Gemüsehändler, Bäcker … darunter auch Institutionen wie die Pâtisserie Stohrer, 1730 von einem polnischen Pâtissier eröffnet, der sein Handwerk im Elsass vervollkommnete, wo der polnische König Stanislaus nach der Teilung seines Landes im Exil lebte. Der Pâtissier folgte der Tochter seines Königs, als diese den französischen Thronfolger Ludwig XV. heiratete, nach Versailles und später nach Paris. Dort machte er das heute noch klassische Dessert „Baba au rhum“ bekannt (ja, nach dem in Rum getränkten Kuchen ist bei Asterix ein Römerlager benannt). 1864 wurde das Geschäftslokal von Paul Baudry so gestaltet, wie es heute noch aussieht. Man kann also kunsthistorisches Interesse vortäuschen, wenn man die legendäre Pâtisserie betritt, wird sie aber kaum wieder verlassen, ohne zumindest ein Éclair gekauft zu haben. Ich mochte diese länglichen, wegen ihrer Cremefüllung oft etwas „aufgeweichten“ Brandteigkrapfen früher nicht so, ließ mich aber längst durch ein Schokolade-Éclair von Stohrer bekehren.
Renaissance-Kirche Saint-Eustache
Zumindest eines der einst zahlreichen großen Fischgeschäfte liegt schräg gegenüber der Pâtisserie Stohrer, und auch das legendäre Restaurant Au Rocher de Cancale ist in Sichtweite, wenn mich auch die hellblaue Farbe und die frisch renovierte, viel zu glatte Fassade irritieren – das leicht verwitterte Äußere von früher fand ich passender. 1846 wurde das aktuelle Restaurant neu eröffnet, das viel ältere Vorgängerlokal gleichen Namens war von Balzac in zahlreichen Romanen verewigt worden. Ein Koch namens Langlais kreierte darin die „sole à la normande“, „normannische Seezunge“, ein Fischgericht mit vielen Meeresfrüchten und – wie alles, das mit dem Adjektiv „normannisch“ geschmückt wird – reichlich Obers. Wir verdanken das heute als typisch normannisch geltende Gericht dem romantischen neunzehnten Jahrhundert und seinem Bedürfnis nach Folklore, die es im Regelfall an Ort und Stelle gar nicht gab. So baute man allerorts Pseudoruinen, rekonstruierte verfallene Ritterburgen, erfand „uralte“ Trachten vom Schottenrock bis zum Steireranzug und dachte sich „typische“ Gerichte aus. Gegen Letzteres ist auch nichts einzuwenden.
Innen ist das Rocher de Cancale nach wie vor eine Augenweide – was das berühmte Rezept betrifft, verlasse ich das Lokal aber mit leeren Händen: Der aktuelle Küchenchef hat weder von der Geschichte des Hauses noch von normannischer Seezunge die leiseste Ahnung, ein Jammer.
Passage du Caire
Lohnend ist in diesem Viertel auch der eine oder andere Abstecher in eine der Nebenstraßen, etwa die Rue Tiquetonne, zu