aussieht, freilich wie einer für Experten, in dem es von Jahrgangssardinen über feine Senfsorten bis zur Chocolatier-Basisausstattung einfach alles gibt. Bei meinem Bummel in Richtung Osten komme ich an zahllosen winzigen Geschäftslokalen, Cafés und Restaurants vorbei, deren Enge ihre Inhaber zu kreativen Lösungen zwingt und in denen modernes Design, altes Gebälk und Mauerwerk reizvolle Kombinationen ergeben. Ich lande in der Passage du Grand-Cerf, an deren Stelle sich einst das Hôtel du Grand-Cerf befand, der zentrale Postkutschenbahnhof der Hauptstadt – unglaublich turbulent muss es damals zugegangen sein. Heute strahlt die Passage eher diskrete Eleganz aus, viele Designer-Büros sind hier zu Hause, ein schönes und teures Geschäft für afrikanische Möbel, Stoffe und Kunsthandwerk auf zwei Etagen, kleine Boutiquen. Bei einem Vintage-Laden finde ich Schuhspanner des österreichischen Bundesheers in einer Wühlkiste.
Die Passage bringt mich zurück zur Königsstraße. Bis vor Kurzem war sie gerade in diesem Abschnitt noch Tag und Nacht ein einziger lang gezogener Straßenstrich, doch davon ist so gut wie nichts mehr geblieben. Die Straße atmet sichtlich auf, Sex-Shops weichen Bio-Weinhandlungen, Gemüseläden und Frühstückslokalen. Zahlreiche Passagen mit teils schillernder Vergangenheit öffnen sich links und rechts der Rue Saint-Denis, zum Beispiel die Passage du Bourg-l’Abbé gleich gegenüber, in der sich einige Handwerker und ein hübsches Café angesiedelt haben, oder, ein paar Schritte stadtauswärts, die Passage de la Trinité, eine der engsten dieses Viertels.
Nach dem Überqueren der Rue Réaumur geht es weiter in die Passage du Caire, die wie vieles in diesem Viertel an Napoleons Ägypten-Feldzug erinnert. An dieser Stelle befand sich der von Victor Hugo im Glöckner von Notre-Dame ausführlich beschriebene „Hof der Wunder“ (Cour des Miracles), in dem Krüppel aller Art wie durch ein Wunder von ihren Leiden „geheilt“ wurden, wenn sie von ihren Betteltouren zurückkamen: Buckel wurden abgeworfen, Blinde konnten wieder sehen, Gelähmte wieder gehen … ein schillernder, aber auch gefährlicher Ort, glaubt man dem Romancier. Es lohnt sich, ein paar Schritte ins Innere der verzweigten Passage zu machen, in der es zahlreiche Schneiderläden gibt, man aber auch Schaufensterpuppen und ähnlichen Boutiquebedarf kaufen kann. Sehenswert sind die „ägyptischen“ Ornamente der Hausfassade am Hinterausgang.
Nicht unspannend geht es in der Passage Sainte-Foy weiter, deren diskreten Eingang in der Rue Saint-Denis 263 man leicht verpassen kann. Sie wurde direkt an die mittelalterliche Stadtmauer gebaut, weswegen sie einige Stufen und Unebenheiten aufweist. Diesem Weg („Sentier“) entlang der Mauer verdankt das ihn umgebende Viertel bis heute seinen Namen. An der Passage Sainte-Foy sind alle Neuerungen der jüngsten Zeit spurlos vorübergegangen. Eine Dame fortgeschrittenen Alters mit gewagtem Dekolleté, eine würdige Vertreterin ihres uralten Gewerbes, beschimpft mich, als ich den Fotoapparat zücke, um eine Schneiderwerkstatt in der Passage zu fotografieren, und beruhigt sich erst, als ich den Apparat in meiner Tasche verstaue. Prostitution und Schneiderwerkstätten – das macht den „alten“ Sentier seit jeher aus.
Einst arbeiteten hier vor allem Nordafrikaner, darunter viele sephardische Juden, später Türken, dann übernahmen die Chinesen den Pariser Textilsektor. Sie wurden wegen zunehmender Beschwerden in Richtung elftes Arrondissement verdrängt – die Rue du Chemin-Vert gilt nach wie vor als Hauptstraße des „neuen“ Sentier, doch auch dort waren die vielen Schneidereien nicht erwünscht. Inzwischen zeichnet sich eine definitive Lösung ab, die chinesische Kleiderproduktion ist in die Vorstadt Aubervilliers übersiedelt. Zu meinem Leidwesen muss ich ein zweites Mal an der Dame vorbei – das andere Ende der Passage, an dem ich eigentlich wieder hinauswollte, ist mittlerweile durch ein versperrtes Gitter verschlossen. Diesmal werde ich großzügig ignoriert.
Der Umweg, den ich wegen der geschlossenen Passage nehmen muss, ist aber auch lohnend. So kann ich einen kurzen Blick in die Passage des Dames-de-Saint-Chamond, Rue Saint-Denis 226, werfen, an deren Ende ein hübsches Stadtpalais liegt, das sich einst ein Minister Richelieus erbauen ließ. Auch dieses wurde vom Textilsektor übernommen. Man kann durch das Palais zum Boulevard Sébastopol durchgehen. Vorsicht, das Pflaster ist sehr uneben!
Ich kehre in die Rue Saint-Denis zurück, gehe links in die schräg bergauf führende Rue Sainte-Foy weiter, danach gleich rechts in die Rue Chénier und erklimme den ehemaligen „Mont Orgueilleux“, den Hochmutsberg. Hier ist das Herz des Sentier-Viertels, die Straßen sind noch immer von kleinen Boutiquen gesäumt, ständig überqueren mit Stoffballen bepackte Männer die Fahrbahn. In der Rue Beauregard angekommen, mache ich ein paar Schritte stadteinwärts, die mich an der kürzesten Straße von Paris vorbeiführen: Die Rue des Degrés besteht eigentlich nur aus ein paar Stufen. Dieses Viertel ist ein schönes und, von den paar Boutiquen-Straßen abgesehen, recht ruhiges Eck von Paris. An der Kreuzung mit der Rue de la Lune, der Mondstraße, wäre die „Blumenboutique“ Les 2 au coin eine Pause wert: eine Blumenhandlung, in der es auch eine Café-Ecke und ein kleines Mittagsmenü gibt. Sieht nett aus, mir kommt die unverhoffte Pausenlocation aber etwas zu früh. Außerdem sind die Tische ohnehin voll, ein gutes Zeichen.
Porte Saint-Denis
Von der Rue de la Lune, die ich nun hinunterspaziere, hat man einen schönen Blick auf die Porte Saint-Denis, eine zu Ehren des Sonnenkönigs Ludwig XIV. errichtete barocke Triumphpforte. Unter seiner Regierung wurde die aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende, an dieser Stelle vorbeiführende Stadtmauer Karls V. abgerissen und durch die Grands Boulevards ersetzt. Noch heute markiert die Pforte, die an der Stelle eines gleichnamigen Tores der alten Mauer steht, eine Grenze: Auf der anderen Seite heißt die Königsstraße nun Rue du Faubourg Saint-Denis und wechselt den Charakter. Halal-Fleischereien dominieren ein verändertes, aber nicht minder sehenswertes Straßenbild. Zudem gibt es weitere Passagen zu erforschen, gleich nach dem Triumphbogen etwa die Passage du Prado mit einem sehenswerten Art-déco-Dach, unter dem sich vorwiegend afrikanische Männer in zahlreichen Barber-Shops rasieren lassen.
Zwischen all den nordafrikanischen Läden übersieht man leicht die Brasserie Chez Julien, was ein Fehler wäre, handelt es sich doch um ein prachtvolles ehemaliges „Bouillon“, ein Lokal, in dem einst vor allem gekochtes Rindfleisch und eben Suppe serviert wurden. Die opulent verzierte Belle-Épo-que-Speisehalle mit sehenswertem Glasdach beherbergt heute ein nicht billiges Restaurant, das aber trotzdem gut besucht ist.
Als Little India gilt die Passage Brady ein paar Schritte weiter, ein indisches Restaurant grenzt hier an das andere. Ich mag sie nicht besonders, weil man ständig von Kellnern mit Speisekarten angesprochen und hineingebeten wird, ein Spießrutenlauf.
Lohnender finde ich die ruhige Passage des Petites-Ecuries (auch ein hübscher Name: „Kleine-Pferdestall-Passage“), die einen starken Kontrast zur quirligen Rue du Faubourg Saint-Denis bildet. Einige Schritte in ihrem inneren liegt die Brasserie Flo, eine Pariser Gastronomielegende, im Jahr 1918 von einem Elsässer namens Floederer in einem alten Bier-Depot gegründet und heute das Flaggschiff eines wahren Brasserie-Imperiums. Das Ambiente ist gediegen, die Preise sind es auch.
Zurück auf dem Königsweg umfängt mich wieder das pralle Straßenleben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sticht eine kleine, hübsche Kaffeerösterei heraus, daneben ein ausgezeichnet sortierter Traiteur, man bekommt kurdische Sandwiches, kann auf beiden Seiten in unzähligen Lokalen essen gehen – wieder einmal zeigt sich, dass auch untouristische Straßenzüge in Paris wahre Paradiese für Flaneure darstellen können, vor allem, wenn sich diese ein kleines bisschen für Gastronomie interessieren.
Ab der Rue de la Fidélité wird die Straße deutlich ruhiger. Die Halle des Marché Saint-Quentin lasse ich links liegen, einen anderen Abstecher möchte ich wiederum keinesfalls auslassen: den Nordbahnhof, eine dieser Kathedralen des Verkehrs, die die Begeisterung des neunzehnten Jahrhunderts für die Eisenbahn und für ihre ungeheuren Möglichkeiten würdig zelebrieren. Amsterdam und Brüssel sind zum Greifen nah, doch wozu in die Ferne schweifen: Die Brasserie Terminus Nord, wieder eine dieser altehrwürdigen Brasserien, von denen auf dieser Route kein Mangel besteht, liegt genau gegenüber. Zumindest einmal sollte man sich so ein Lokal in Paris auch gönnen, allein des Spektakels wegen. Mit einer „Brauerei“, was der Name eigentlich bedeutet, haben diese Gaststätten