Thomas Röper

SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020


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      Der Reichstag im Deutschen Kaiserreich durfte Gesetze selbst einbringen und sie auch beschließen, außerdem konnte er den Staatshaushalt ablehnen. Wer sich für Geschichte interessiert, der weiß, wie sehr Bismarck und später Kaiser Wilhelm mit dem Reichstag zu kämpfen hatten, weil er nicht nur auf dem Papier Rechte hatte, sondern diese auch konsequent nutzte.

      Wenn man dagegen die Rechte des EU-Parlaments sieht, dann fragt man sich, wie diese EU überhaupt von Demokratie reden kann, wenn sie sich ein Scheinparlament ohne Rechte hält, wie es nicht einmal der deutsche Kaiser Wilhelm gewagt hat.

      Klingt gut, bedeutet aber genau das, was ich ausgeführt habe: Das Parlament hat nichts zu entscheiden, sondern ist „fast“ gleichberechtigt mit dem (Minister-)Rat. Der ist aber gar nicht demokratisch gewählt, was bedeutet, dass das Parlament beim Erlassen von Gesetzen weniger Rechte hat als ein nicht gewähltes Organ der EU. Wo ist hier die Demokratie?

      Weiter stand im Spiegel: „Die Abgeordneten haben zwar kein Initiativrecht für Gesetze. Sie können aber die Kommission auffordern, Gesetze zu bestimmten Themen zu erarbeiten.“

      Genau. Nur wie die Gesetze aussehen, die die Kommission dann erarbeitet und dem Parlament zur Entscheidung vorlegt, darauf hat das Parlament keinen Einfluss. Und wie gesehen hat es auch keine Möglichkeit, solche Gesetze endgültig abzuschmettern. Was aus der nicht frei gewählten Kommission kommt, wird auch Gesetz. In der 40-jährigen Praxis gibt es dafür kein Gegenbeispiel.

      Um uns zu zeigen, wie gut und wichtig das EU-Parlament ist, fragte der Spiegel dann: „Wie bestimmen Entscheidungen des Europaparlaments unseren Alltag?“

      Als Antwort wurden diverse positive Beispiele aufgezählt, wie zum Beispiel die weitgehende Abschaffung der hohen Roaming-Gebühren im EU-Ausland. Nur wir erinnern uns: Diese Gesetze stammen ja nicht vom Parlament, sie kamen aus der Kommission und wurden vom Parlament durchgewunken. Das gilt für alle im Spiegel genannten Beispiele, sie alle wären auch ohne das Parlament entstanden. Das Parlament hat kein Recht, selbst Gesetze einzubringen.

      Bleibt eine Frage: Wozu wählen gehen, wenn das Parlament ohnehin nichts bewegen oder entscheiden kann?

      Nun, das hat rein politische Gründe. Wenn man den etablierten Parteien eins auswischen wollte, dann machte man sein Kreuz bei einer „Protestpartei“. Wer gegen die „Protestparteien“ war, machte sein Kreuz bei einer etablierten Partei. Bei welcher, war völlig egal, sie haben ja sowieso nichts zu entscheiden im EU-Parlament.

      Es ging bei der Wahl also nur darum, zu sehen, wie die Stimmung in Europa ist. Gewinnen die euroskeptischen Parteien, führt das zu Unruhe bei den Regierungen und vielleicht sogar zu Veränderungen. Gewinnen die etablierten Parteien, geht es weiter wie bisher.

      Um mehr ging es nicht, es macht – aufgrund der fehlenden Rechte des EU-Parlaments – keinerlei Unterschied, ob Sie CDU, SPD, FDP oder Grüne gewählt haben. Die Abgeordneten dort haben nichts zu sagen und stimmen sowieso praktisch immer identisch ab.

      „Diese Gemeinsamkeit der Ansichten ließ nur eine Frage offen: Warum sechs Kandidaten nominieren, wenn die gemeinsamen Positionen auch einer allein verkünden kann?“

      Daher waren folgerichtig auch die Wahlplakate und Slogans so gleich, dass man nicht wüsste, von welcher Partei sie kommen, wenn es nicht draufstehen würde. Nur was ist das für eine Wahl, wenn man nicht zwischen verschiedenen Positionen wählen kann?

      Der Vollständigkeit halber wollen wir uns auch die Wahlergebnisse anschauen, wobei uns der Blick ins EU-Ausland mehr interessieren sollte, denn über viele dieser Trends in anderen Ländern wurde in Deutschland nicht berichtet.

      In Frankreich hat Macron trotz allen Einsatzes verloren und kam nur auf Platz zwei, auf Platz eins landete Le Pen. Für Macron war das eine herbe Niederlage, die seine politische Situation weiter schwächt.

      In Großbritannien gewann die Brexit-Partei, die nicht einmal ein Programm hatte, aber einen Namen, der alles sagt. Die etablierten Parteien lagen weit hinter ihr. Und auch wenn die „Qualitätsmedien“ danach weiterhin auf ein Ende des Brexit warteten, war klar, dass die Mehrheit der Briten den Brexit wollte. Das zeigte sich dann ja auch im November, als Johnson mit seinem kompromisslosen Brexit-Kurs die vorgezogenen Neuwahlen haushoch gewann.

      In Österreich gewann die ÖVP von Kanzler Kurz hinzu, und die FPÖ ist trotz des medialen Dauerfeuers gegen sie im Zuge der Strache-Affäre nicht abgestürzt. Alle Bemühungen der Medien haben nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Man darf sich fragen, wie es wohl ausgegangen wäre, wenn nicht genau zum „richtigen“ Zeitpunkt das Strache-Video aufgetaucht wäre. Die EU-Wahl wäre zu einem Triumph der Regierung auf ÖVP und FPÖ geworden, aber diese Regierung wurde gerade noch rechtzeitig vom Strache-Video hinweggefegt.

      In Italien haben die regierenden EU-Kritiker von Liga Nord und 5-Sterne ca. die Hälfte der Stimmen bekommen. Obwohl das eigentlich ihre Position hätte stärken müssen, ist die Koalition nur ein paar Monate später zerbrochen.

      Im kleinen Slowenien führten ebenfalls die oppositionellen Euroskeptiker von rechts.

      In Griechenland bekam Tsipras mit seiner Partei einen derartigen Denkzettel verpasst, dass er sofort Neuwahlen ankündigte, die er dann später verloren hat.

      In Schweden haben die Nationalisten den größten Zuwachs erzielen können und landeten auf Platz drei, während die etablierten Parteien Platz eins und zwei halten konnten und nur leichte Verluste eingefahren haben. Das macht die politische Situation in dem Land nicht einfacher, wo die Nationalisten schon bei den letzten Parlamentswahlen die politischen Karten neu gemischt haben.

      In Ungarn hat die Partei von Orban klar gewonnen und über 50 % eingefahren.

      Europaweit konnte man ein Wachstum der EU-Kritiker beobachten. Und zum ersten Mal haben die großen Blöcke EVP (mit CDU/CSU) und Sozialisten (mit der SPD) ihre Mehrheit im EU-Parlament verloren. Die Stimmung ist also auf den ersten Blick nicht gut für den klassischen „Weiter-so“-Kurs. Aber natürlich haben die Befürworter von „Weiter-so“ immer noch eine satte Mehrheit, denn der Kurs wird auch von den Fraktionen der Liberalen und der Grünen gestützt.

      Die Liberale Fraktion im EU-Parlament wächst stark, allerdings nicht aufgrund von Wahlerfolgen, sondern weil Macrons Partei sich den Liberalen angeschlossen hat. Diese zur französischen Präsidentschaftswahl aus dem Nichts entstandene Retortenpartei war bisher nicht im EU-Parlament vertreten, und ihr Einzug stärkt daher automatisch die Liberalen.

      Die wirklichen Gewinner waren die EU-Kritiker und die Grünen, wobei die EU-Kritiker klarer gewonnen haben. Sie teilen sich in zwei Fraktionen auf, in die „Europäische Allianz der Völker und Nationen“ und in „Europa für Freiheit und Demokratie“. Sollten sie sich vereinen, wären sie mit 111 Mandaten drittstärkste Kraft im EU-Parlament, denn trotz Macrons Anschluss an die Liberalen kommen die Liberalen nur auf 105 Mandate.

      Die Grünen sind zweiter Sieger. Während die beiden EU-kritischen Fraktionen zusammen von 78 auf 111 Plätze gewachsen sind, sind die Grünen von 52 auf 69 gewachsen.

      Die Neubesetzung aller Schlüsselposten in der EU, die auf eine solche Wahl folgt, hat sehr dubiose Figuren nach oben gespült. Bei demokratischen Wahlen hätten die wohl keine Chance