Bücher, die damals zu diesem Zweck in Albanien kursiert sind. Es sind die zerfleddertsten Bücher meiner Bibliothek. Ich glaube, die schicke ich irgendwann einem jener EU-Parlamentarier, die die westliche Ausrichtung der albanischen Bevölkerung infrage stellen.
Wien, Sprachwechsel, Umbruch. Wie verliefen Ihre ersten Jahre? Wie kamen Sie ins Deutsche, ins Wiener Deutsche natürlich?
Sprachwechsel findet ja auf alle möglichen Arten und auf vielen Ebenen statt. Am eigenartigsten ist es bei Flüchtlingen. Wir kamen damals als Flüchtlinge nach Wien. Da kommt man im Auffanglager mit allen möglichen Nationalitäten zusammen. Deutsch hört man nur bei dem Interview, in dem geprüft wird, ob einem der Asylstatus zustünde. Aber das dauert nur wenige Minuten, und in meiner Erinnerung spricht der Beamte nicht mit dem Befragten, sondern mit dem Dolmetscher, und der Dolmetscher spricht einen dann in der eigenen Muttersprache an. Das war in den ersten Wochen in Österreich der einzige Kontakt mit deutscher Sprache. Inzwischen bilde ich mir ein, dass dieses Gespräch im Auffanglager bei mir nicht einmal eine Minute gedauert hat. Die wichtigste Frage war, woher ich die Narbe im Gesicht hätte, die damals durch eine Entzündung entstanden war und wohl ziemlich dramatisch aussah. Ich antwortete ehrlich. Jahre später kam ich darauf, dass diese Frage eigentlich entscheidend dafür war, dass uns der Asylstatus nicht zuerkannt wurde. Ich frage mich immer noch, hätte ich da eigentlich lügen sollen. Mit jedem Detail, dass ich von der Familiengeschichte meines Vaters erfahre, wird mir klarer, dass uns dieser Status schon zugestanden hätte … Aber rechtfertigt das dann eine Lüge? Wir sind dann in eine Pension gekommen. Da hatten wir einen Fernseher im Zimmer und ich habe dann auch mehr Deutsch gehört. Ein paar Jungs hatten sich Videokassetten vom Flohmarkt besorgt. Das waren Rambo 2, Scarface und Black Rain. Ach, ja, Mad Max 2 war auch dabei. Das war mein erster Kontakt mit der deutschen Sprache. Es steckt gar keine versteckte Botschaft dahinter, das war einfach so. Dann bin ich ins Gymnasium gekommen und danach wurde mir vom Wiener AMS ein Deutschkurs verordnet, der sich an den Kriterien der Kurse des Goethe-Instituts orientierte. In Österreich gibt es ja kein Goethe-Institut. Der Kurs war wirklich sehr gut aufgebaut. Eigenartig war nur mein Tagesablauf, damals. Ich wachte im Flüchtlingsheim auf, ging ins Gymnasium, dann in diesen Kurs, dessen Teilnehmer fast alle wohlhabende UNO-Mitarbeiter waren, und dann ging ich wieder ins Flüchtlingsheim schlafen. Das bin ich. Mein Leben verläuft immer so: vom Wettbüro ins Ministerium, dann in die Gosse – und dann eine Lesung. Durch meine Art des Deutschlernens habe ich die Einsicht gewonnen, dass es eigentlich keinen Wechsel, keine Umbrüche gibt, genauso wenig wie es Grenzen oder das Fremde gibt; es ist eigentlich alles erschreckend gleich, und die Unterschiede sind so oberflächlich, wahrscheinlich nur angeeignet. Leider vergesse ich das auch sehr oft. Ich wollte, diese Einsicht würde in mir zur Gewissheit werden, zu etwas, woran man sich festhalten kann. Obwohl: Eigentlich mag ich es gar nicht, mich ständig irgendwo festzuhalten.
Mit Rauchschatten (2010) wurden Sie als Schriftsteller bekannt, Aus dem Fluss und Minus folgten vier Jahre später. Der Literaturwissenschaftler Holger Englerth schreibt über Rauchschatten und Minus: »Beide Romane liefern keine >realistischen< Abbilder des von ihnen Dargestellten, sondern entziehen sich durch ihre reflektierten Erzählverfahren einer wie auch immer gearteten >Eindeutigkeit<.« Stimmt das?
Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Das Schreiben hat für mich viel von Improvisation. Natürlich sitze ich dann und arbeite die Sachen oft um. Es kommt aber ein Punkt, an dem ich einfach nur noch schreibe und mich nicht mehr fähig fühle, mich mit dem Ergebnis auseinanderzusetzen. Ein Zeitpunkt, an dem man auf einen erfahrenen Lektor angewiesen ist, um einen Zugang zum eigenen Text zu finden. Die Abhandlung von Holger Englerth war für mich als Autor sehr hilfreich. Ich wollte ursprünglich nichts als schreiben. Über das Veröffentlichen habe ich nicht nachgedacht. Ich wusste nicht, was für ein schwieriger, mitunter nervenaufreibender, entmutigender und desillusionierender Prozess die Publikation sein kann. Genau so habe ich diesen Prozess kennengelernt. Dann kamen einige Besprechungen, und ich hatte den Eindruck, dass der Ausgangspunkt für die Kritik nie der Text und nicht einmal ich als Autor war, sondern stets meine Herkunft. Wie gesagt, das hat natürlich mit dem Setting zu tun. Tatsache ist aber, dass mich dieser verfehlte Ausgangspunkt keineswegs irritiert hat. Man ist ja so dankbar, dass man wahrgenommen wird! Worauf ich aber hinauswill: Durch die Veröffentlichung, die Besprechungen, die Lesungen, den Betrieb habe ich eigentlich meinen Ausgangspunkt, den Text, völlig aus den Augen verloren. Obwohl ich in diesen Betrieb äußerst marginal involviert bin. Die Auseinandersetzung von Holger Englerth mit meinen zwei Texten war in gewisser Weise eine Rettung. Ob es stimmt, was darin steht, kann ich trotzdem nicht beurteilen. Meine einzige Hoffnung bei einem Text ist, dass er ein Eigenleben entwickelt. Bei dem Gedränge, das da herrscht, ist das gar nicht einfach, aber ich hoffe es. Wenn der Text dann lebt, stimmt alles, was darüber gesagt wird, und gleichzeitig stimmt es nicht. So sehe ich das.
Rauchschatten sei keine Biografie, schreibt Englerth, sondern illustriere »die Brüche, die Macht und Machtverlust in den Erinnerungen der Betroffenen hinterlassen«. Richtig?
Ich weiß nicht, was »Biografie« bedeuten soll. Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich weder Angelina Jolie noch Putin bin und also nicht denke, dass meine Biografie wahnsinnig interessant sein könnte. Würde ich eine Biografie schreiben wollen, würde ich mich zwischen diesen zwei Personen entscheiden. Oder vielleicht über Trump schreiben. Ich finde ihn sehr spannend. In meinen Texten kommt oft ein Ich-Erzähler zu Wort. Der ist dann auch noch Albaner. Ich kann nachvollziehen, dass man, wenn man zehn Bücher in acht Stunden lesen muss, in solchen Texten die Attribute einer (Auto-) Biografie wiederfindet und dann die Texte auch so bezeichnet. Ich habe in einem Wettlokal gearbeitet, weil ich Minus schreiben wollte. Also gehöre ich einer Spezies an, die sich die Biografie erschafft, um sie dann als Stoff zu verwenden. Ich würde das salopp Entpersonalisierung des Schicksals nennen: Ein Leben wird wie ein Kleidungsstück ausgezogen, und jeder kann das dann anziehen und damit eine Perspektive einnehmen, die gewisse Einsichten verschaffen könnte.
So viel zum Thema »Biografie«. Ihre Frage war eine ganz andere, aber die habe ich ja oben beantwortet. Ich weiß, abgesehen von höchstens zwei grundlegenden Sachen, nicht, was richtig ist. Am wenigsten, wenn es um eine Aussage über meine Texte geht. Ich kann einen Text von mir genauso wenig beurteilen oder deuten wie mich selbst. Ich kann nur sagen, was meine Absicht war und worum ich mich am meisten bemüht habe – und das ist eben, meine Erfahrung von mir selbst loszulösen, damit sie für den Leser dann als seine eigene funktioniert. Natürlich finde ich es inzwischen anmaßend, dem heutigen Leser das zuzumuten. Aber das war der Hintergrund von Rauchschatten und Minus. Jetzt bin ich auf der Suche nach einem neuen Standpunkt, der dem Leser und vor allem dem Feuilleton, sagen wir, eher entgegenkommt.
Minus sei keine Reportage aus einem Wettlokal, sondern reflektiere in erster Linie »die Unmöglichkeit des objektiven Erzählens über >fremde< Welten«. Auch richtig?
Zu Rauchschatten habe ich einen gewissen zeitlichen Abstand, zu Minus ist er kleiner. Trotzdem ist es nicht meine Absicht, meine eigenen Texte zu interpretieren. Ich kann das nicht. Vor allem, wenn es sich um Rauchschatten und Minus handelt. Sobald ich diese Texte zu lesen beginne, spüre ich, dass da etwas zugange ist, das mich sehr stark, vielleicht zu stark beschäftigt hat. Ich wüsste nicht, womit ich diesen Zustand vergleichen soll. Ist es eine Erinnerung, ein Einschnitt, der einen viel zu sehr vereinnahmt hat? Ich kann es nicht sagen. Deshalb kann ich meine Bücher auch nicht beurteilen, bewerten oder positionieren. Wenn ich das tue, geschieht es meistens nur auf einer einzigen Ebene. Auf der Ebene nämlich, auf die ich mich im laufenden Gespräch beziehe. Aber ich spüre immer, während ich das tue, dass das eine Verallgemeinerung, eine Einschränkung des Textes ist. Also bin ich am Ende oft selbst derjenige, der die Schubladisierung durchführt. Ich liebe Bücher, die von unterschiedlichen Lesern unterschiedlich gelesen werden. Offenbar bieten auch meine Texte solche Möglichkeiten. Der Moment, in dem ich mit dieser Erkenntnis konfrontiert werde, bildet eine der wesentlichsten und wenigen Belohnungen, die ich als Autor überhaupt erfahre. In erster Linie freue ich mich darüber, weil das auf eine Auseinandersetzung mit dem Text hinweist. Trotzdem kann ich diese Betrachtungen nicht beurteilen. Genauso wenig wie die Gleichgültigkeit des Feuilletons in Bezug auf Minus. Ich ziehe